Rede zum Gedenken an die Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 und den Mauerfall

Rede von Janine Wissler zu „Gedenken an 20 Jahre Mauerfall und die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstandes gegen die SED-Diktatur am 17. Juni 1953" am 17. Juni 2009

Herr/Frau Präsident/in, meine Damen und Herren,

es kommt nicht oft vor, dass wir im Hessischen Landtag Arbeiteraufstände, soziale Unruhen und politische Streiks feiern.


17. Juni 1953
Wir gedenken heute vieler mutiger Menschen, die ihre Stimme erhoben haben und auf die Straße gegangen sind, um gegen politische und soziale Missstände zu protestieren, während ihre Regierung so weit von den Sorgen und Anliegen der Bevölkerung entfernt war, dass diese Proteste sie überraschten. Der Aufstand von 1953 wurde von arbeitenden Menschen angeführt. Konkreter Anlass war die Erhöhung der Akkordnormen in der ostdeutschen Industrie. Die Wochenarbeitszeit sollte sich erhöhen, ohne dass der ohnehin magere Lohn erhöht werden sollte. Dieses Vorhaben der politischen Führung der DDR löste bei den Arbeitern solche Empörung aus, dass sie in den Streik traten. Binnen kurzer Zeit schlossen sich ihnen andere an, und der Protest weitete sich auch inhaltlich aus. Nun ging es nicht mehr nur um die soziale Frage, sondern auch um die grundsätzliche Frage, wer eigentlich darüber zu bestimmen habe, was zu welchen Bedingungen produziert wird und wer über die Geschicke der Gesellschaft bestimmt. Der Streik wandelte sich von einem rein wirtschaftlichen in einen politischen Streik.
Der Unmut erfasste viele Menschen und war in Verbindung mit der Übernahme der Produktionsmittel in Streiks so mächtig, dass die DDR-Führung fürchten musste, die Kontrolle über das Land zu verlieren.

Militär wurde im Innern, gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt, um den Aufstand der einfachen Menschen niederzuschlagen, Dutzende wurden umgebracht. Repressionen folgten, und die Demonstranten erreichten nicht viel mehr, als dass die angedrohte Akkorderhöhung zurückgenommen wurde. Aber der Aufstand zeigte die Macht, die eine Bevölkerung gegenüber ihrer Regierung aufbauen kann, wenn sie nicht mehr bereit ist, immer weitere Entbehrungen und Verschlechterungen des Lebensstandards hinzunehmen. Der Aufstand von 1953 ermutigte weitere, in Ungarn, in der Tschechoslowakei und anderswo.
Diese demokratische Tradition ist ein wichtiger Bestandteil der deutschen Geschichte, derer wir gern gedenken.

Mauerfall
Aber es sollte bis 1989 dauern, bis die Mauer fiel in Folge wochenlanger Demonstrationen, die sich zu einer Massenbewegung entwickelten. Die DDR-Führung zog während des Herbstes in Erwägung, eine „chinesische Lösung" zu versuchen und erneut das Militär gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen. Sie sah letztlich die Aussichtslosigkeit ihrer Lage ein und begab sich auf den Weg der Verhandlungen mit den Wortführern des Protests, am berühmten Runden Tisch. Aber die Menschen hatten die Nase voll von einer politischen Führung, die taub war für die Sorgen und Anliegen der Bevölkerung, die ihre Bürger bespitzelte und einsperrte.
Die Mauer war nicht mehr zu halten und ebenso wenig die Macht von Partei und Sicherheitsapparaten.
Die Bevölkerung der DDR hat vor 20 Jahren der deutschen Geschichte ein neues Kapitel hinzugefügt, nämlich eine erfolgreiche Revolution, einen erfolgreichen, von Demonstrationen, Werksbesetzungen und Kundgebungen geprägten Versuch, ein politisches System abzuschütteln.
Und wir gedenken heute der Opfer an der innerdeutschen Grenze, an der menschenfeindlichen Mauer.

Und danach?
Aber die Geschichte ist mit 1989 nicht vorbei.
Leider, und das merkten die Menschen in den neuen Bundesländern recht bald, genossen sie die Zuwendung des Westens nur solange, wie die deutsche Wiedervereinigung sich politisch nutzen ließ und dem selbst ernannten Kanzler der Einheit Wahlsiege im Osten bescherte mit dem Versprechen der „blühenden Landschaften".
Man beschloss den Solidaritätspakt, der leider ebenso wie die übrigen Kosten der Wiedervereinigung zum allergrößten Teil aus den Einkommen der Lohnabhängigen in West und Ost finanziert wurde.

Heute, 20 Jahre nach dem Mauerfall, ist Deutschland noch immer tief gespalten.
Der Aufbau Ost, der einst zur Chefsache erklärt wurde, hat nicht wirklich stattgefunden. Was stattfand, war eine Deindustrialisierung auf Kosten der ostdeutschen Bevölkerung. Arbeitslosigkeit, Landflucht und Verödung ganzer Landstriche prägen heute das Bild in den neuen Bundesländern.
Und die Schere zwischen Ost und West klafft weiter auseinander. Die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland ist fast flächendeckend doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern. Wer bei Arbeitslosenquoten von bis zu 25 Prozent überhaupt noch das Glück hat, eine Stelle oder einen Ausbildungsplatz zu finden, verdient Stundenlöhne, die in manchen Branchen unter drei Euro liegen. So verdient eine Friseurin in Brandenburg 3,05 Euro. Die Kinderarmut ist erschreckend hoch.

Wo ist der Aufschrei der Parteien, die sonst immer am lautesten schreien, wenn es um die Lebensbedingungen der Menschen in der DDR und vor allem deren Verurteilung geht?

DIE LINKE will gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West, wir fordern die Angleichung der ostdeutschen Löhne und Gehälter sowie der Renten an das westdeutsche Niveau.
Eine wachsende Zahl von Menschen in Ostdeutschland wünscht sich laut Umfragen die DDR zurück. Von der Euphorie über das Ende des DDR-Regimes ist 20 Jahre nach Mauerfall nichts mehr zu merken. Das bezeugt die stetig sinkende Wahlbeteiligung im Osten ebenso wie der nicht ablassende Strom gerade junger Leute, die in ihren Heimatregionen keine Zukunft für sich entdecken können und abwandern. Und wer könnte es ihnen verübeln?
Es gibt immer mehr Gegenden, in denen die gesundheitliche Versorgung kaum mehr gewährleistet werden kann, weil sich keine Ärzte finden, die in den ausgestorbenen Landstrichen für die niedrigen Vergütungssätze, die seit den letzten Gesundheitsreformen gelten, arbeiten und leben wollen.
Die Föderalismusreformen der vergangenen Jahre gingen zu Lasten der einkommens- und strukturschwächeren Regionen, einschließlich sämtlicher neuer Bundesländer.
Wenn wir hier im Hessischen Landtag über die neuen Bundesländer sprechen, dann immer nur im Kontext des Länderfinanzausgleichs.
Denn CDU und FDP werden nicht müde, bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine Verringerung des hessischen Beitrags zum Länderfinanzausgleich einzufordern. So sehen Ihre Solidarität und Ihr Respekt für die Menschen in der Praxis aus.
Für viele Menschen, die das Leben im östlichen Teil Deutschlands verbessern wollten und dafür hohe persönliche Risiken und Nachteile in Kauf genommen haben, ist das eine Enttäuschung.
Ich bin es leid, dass diese Debatte genutzt wird, um der LINKEN die demokratische Gesinnung abzusprechen. Die CDU muss vor ihrer eigenen Tür kehren.

Blockflöte CDU
Die Ministerpräsidenten von Sachsen und Thüringen, Stanislaw Tillich und Dieter Althaus, die beide der CDU angehören zählen nicht gerade zur opferbereiten Opposition der DDR-Diktatur.
Angesichts dieser Leute in den eigenen Reihen, sollte sich die CDU nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und anderen Parteien mangelnde Aufarbeitung der Geschichte vorwerfen.
Antrag
Wir könnten vieles, was in diesem Antrag steht, mittragen. Aber Sie haben uns ja gar nicht gefragt. Wenn es Ihnen um eine geschichtliche Aufarbeitung von Recht und Unrecht in der DDR ginge, würden Sie uns an Ihrer Seite finden. Aber die Vorbereitung dieses Antrages macht deutlich, dass es Ihnen darum nicht geht.
Aus unserer Sicht ist es völlig klar, dass die Abriegelung der DDR-Bevölkerung mit dem damit verbundenen Schießwaffengebrauch, die politischen Repressionen und Willkürurteile schwere Verletzungen von Menschenrechten waren.
DIE LINKE achtet und würdigt alle Menschen, die für ihr mutiges Eintreten für demokratische Rechte einer politischen Unterdrückung ausgesetzt waren.
Wir haben aus dieser Geschichte gelernt. In unseren Programmatischen Eckpunkten heißt es:
„Wir lehnen jede Form von Diktatur ab und verurteilen den Stalinismus als verbrecherischen Missbrauch des Sozialismus. Freiheit und Gleichheit, Sozialismus und Demokratie, Menschenrechte und Gerechtigkeit sind für uns unteilbar."

Das wollen Sie nicht zur Kenntnis nehmen, denn es passt nicht in Ihr politisches Kalkül.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die jüngere deutsche Geschichte weder mit dem Mauerbau noch mit der Gründung der SED begann. Die Teilung Deutschlands war eine Folge des Zweiten Weltkrieges und damit der faschistischen Herrschaft in Deutschland.

Es greift historisch einfach zu kurz, zu behaupten, die DDR habe allein dem Machterhalt der SED gedient, wie Sie das in Ihrem Antrag behaupten. Die Blockkonfrontation und der Kalte Krieg, dessen erster Höhepunkt die Gründung zweier deutscher Staaten war - ohne diesen Rahmen kann man die Geschichte nicht aufarbeiten.

Die DDR existierte nicht im luftleeren Raum, sondern in der Konfrontation zwischen den NATO-Staaten und dem, was Sie in Ihrem Antrag den „kommunistischen Machtbereich" nennen. Wer „historische Zusammenhänge nicht verfälschen" will, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, muss diesen Kontext würdigen.
Die Verantwortung der Supermächte in diesem Zusammenhang auszusparen, hält keiner historisch fundierten Betrachtung stand.

Wir haben einen eigenen Antrag eingebracht, der sich darauf beschränkt, heute am 17. Juni den Menschen zu gedenken, die 1953 und 1989 auf die Straße gingen.
Die Verurteilung der Äußerungen von Gesine Schwan und anderen sowie die zigste Forderung nach besserem Geschichtsunterricht halten wir für unnötig.

Die DDR scheiterte nicht, weil sie sozialistisch war, das war sie nicht. Sie scheiterte sowohl an fehlender Freiheit als auch an fehlender sozialer Gleichheit.
Mit Mauer, Bespitzelung und Repressionen wurde der freiheitlichen und demokratischen Idee des Sozialismus, wie sie durch Frauen und Männer wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht geprägt wurde, schweren Schaden zugefügt.
Eine Absage an den Stalinismus bedeutet aber nicht, dass man den Kampf für eine Gesellschaft ohne ökonomische Ausbeutung und ohne politische Unterdrückung, für den Sozialismus, aufgibt.
Ich möchte enden mit einem Satz von Christa Wolf, der zur Losung bei der historischen Protestdemonstration am 4. November 1989 in Berlin wurde: „Also träumen wir mit hellwacher Vernunft: Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!"

DIE LINKE hat sich auf den Weg gemacht, der Verwirklichung dieses Traumes ein paar Schritte näher zu kommen, den viele träumten als sie 1953 und 1989 auf die Straße gingen, um für eine gerechte Gesellschaft zu demonstrieren und zu streiken.
Und gerade in diesen Tagen angesichts der weltweiten Krise wird wieder offensichtlich, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte sein darf und wird.