Rede zur Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Volker Bouffier: Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne ...
Rede von Janine Wissler zur Regierungserklärung "Gemeinsam für ein starkes Hessen" des am 7. September 2010
Herr Präsident, meine Damen und Herren!
Herr Ministerpräsident, mit Verlaub, nach elf Jahren des Wartens hätte ich mit etwas mehr Elan und vor allem mit ein paar neuen Ideen Ihrerseits gerechnet. Sie hatten lange genug Zeit, sich zu überlegen, was Sie als Ministerpräsident anders oder besser machen könnten. Sie haben heute aber leider bewiesen, dass nicht jedem Anfang ein Zauber innewohnt.
Zwar haben Sie warme Worte gesprochen, aber leider wenig gesagt. Sie haben keine Ziele definiert. Sie haben nicht gesagt, wo Sie eigentlich hinwollen. Sie haben eigentlich nichts gesagt, was irgendwie über die bekannte Koalitionsvereinbarung hinausgeht.
(Beifall bei der LINKEN)
Eines muss man Herrn Bouffier lassen: Er ist ein würdiger Nachfolger des Herrn Koch. Wenn erfolgreich ausgesessene Skandale und Affären aus Sicht der CDU zum Anforderungsprofil eines Ministerpräsidenten gehören, dann ist Herr Bouffier natürlich geradezu die Idealbesetzung. Denn er hat eine lange Liste an Affären. Er kann da nahtlos an seinen Vorgänger anknüpfen. Er ist der Skandalminister im Kabinett Koch gewesen.
(Beifall bei der LINKEN)
Der Name Bouffier ist untrennbar mit der Polizeichefaffäre und den Mobbingvorwürfen aus der hessischen Polizei verbunden. Herr Ministerpräsident, Sie haben einen Parteifreund rechtswidrig zum Präsidenten der Bereitschaftspolizei befördert, obwohl ein Gericht Ihnen das ausdrücklich untersagt hatte.
(Beifall bei der LINKEN – Holger Bellino (CDU): Das ist nachweislich falsch!)
Zu Recht beschäftigt das einen Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags. Ich glaube, das ist der dritte in Ihrer Amtszeit.
Die von Ihnen eingeführte Rasterfahndung und die automatische Kennzeichenerfassung hat das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig beurteilt. In Ihrer Regierungserklärung sagten Sie, Sie wüssten um die Grenzen des Staates, wenn es um persönliche Freiheitsrechte gehe. Sie haben aber nicht erwähnt, dass das Bundesverfassungsgericht Ihnen wiederholt genau diese Grenzen aufzeigen musste.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Ministerpräsident, aus diesem Grund haben wir als LINKE einige Bedenken hinsichtlich Ihrer Verfassungstreue. Wir werden Sie deshalb in Zukunft genau beobachten.
(Beifall und Heiterkeit bei der LINKEN – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
Für Ihr „segensreiches“ Wirken als Innenminister wurden Sie zweimal mit dem „Big Brother Award“ ausgezeichnet. Sie erhielten das als „Anerkennung“ für Ihren Kampf gegen Bürgerrechte und für den Ausbau des Überwachungsstaates.
Als Ministerpräsident setzen Sie das System Koch fort. In Kürze wird ein Buch mit dem Titel „Ausgekocht“ erscheinen, das sich mit dem System Koch auseinandersetzt. Wir werden sehen, wann der Teil 2 erscheint. Der Band wird dann hoffentlich „Ausgebufft“ heißen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich muss doch noch ein paar Worte zur Vergangenheitsbewältigung sagen, nämlich zum Abschied von Roland Koch. Da lässt sich ein freiwillig und mitten in der Legislaturperiode ausscheidender Ministerpräsident vor 600 Gästen mit militärischen Ehren verabschieden. Die Kapelle der Bundeswehr spielte auf besonderen Wunsch des ehemaligen Ministerpräsidenten Lieder von Udo Jürgens, und Soldaten der US-Army marschieren im Fackelschein auf.
(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da hast du etwas verpasst!)
Da fehlte nur noch die Fliegerstaffel, die vielleicht das Konterfei des Roland Koch in den Wiesbadener Nachthimmel malt.
(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bring sie nicht noch auf Ideen! – Holger Bellino (CDU): Das ist würdelos!)
Wir, die Mitglieder der LINKEN, sind sehr gespannt, was dieser vollkommen unangemessene und überdimensionierte Abschied den Steuerzahler gekostet hat. Die Antwort steht noch aus. Herr Bellino, wir sind sehr gespannt, was das gekostet hat.
(Beifall bei der LINKEN – Holger Bellino (CDU): Das kostete weniger als Sie!)
Die „tageszeitung“ schrieb über die Verabschiedung, wie ich finde, sehr treffend – ich zitiere –:
In jeder Beziehung eine nicht zu verzeihende Demonstration schlechten Geschmacks.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Aber Herr Koch ist nun Geschichte, kommen wir zur Gegenwart.
Herr Ministerpräsident, Sie freuen sich über die Lage am Arbeitsmarkt. Aber sozial ist eben nicht automatisch das, was Arbeit schafft. Denn immer mehr Menschen können von ihrer Arbeit nicht mehr leben, weil sie skandalös niedrig entlohnt werden.
In Hessen arbeiten 300.000 Beschäftigte, also knapp jeder Fünfte, zu Niedriglöhnen. Dabei sind die Auszubildenden noch nicht einmal mitgerechnet. Ein Viertel davon sind sogenannte Aufstocker, also Menschen, die so wenig verdienen, dass sie trotz ihrer Arbeit auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Ansonsten könnten sie davon nicht leben. Frauen sind von prekärer Beschäftigung überdurchschnittlich stark betroffen.
Aber auch bei den Vollzeitbeschäftigten arbeiten zunehmend mehr Menschen zu Niedriglöhnen. Das betrifft besonders junge Menschen. In Hessen arbeiten 56 % der Vollzeitbeschäftigten unter 24 Jahren zu Niedriglöhnen. Da liegt Hessen über dem Bundesdurchschnitt.
Da brauchen sich Familienpolitiker natürlich keine Gedanken über niedrige Geburtenraten und darüber zu machen, dass junge Menschen immer weniger Kinder bekommen. Junge Menschen arbeiten in Niedriglohnjobs, die zumeist auch noch befristet sind. Da braucht man sich nicht wundern, dass sie keine Familien gründen. Denn sie wissen einfach nicht, wie sie die Familie ernähren sollten.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Tarek Al-Wazir und Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Ministerpräsident, Sie sagen, Sie wollten den jungen Menschen Mut zur Gründung einer Familie machen. Ich bin der Meinung, Sie sollten sich dafür einsetzen, dass Menschen von ihrer Arbeit leben können und dass sie von ihrer Arbeit eine Familie ernähren können.
Meine Herren der FDP-Fraktion, ich will nur anmerken, dass Ihre Freunde aus dem Hotel- und Gaststättengewerbe da übrigens ganz vorne mit dabei sind. Dort arbeiten nämlich weit über die Hälfte der Beschäftigten zu Niedriglöhnen. Es gibt keinen anderen Bereich, bei dem ein so hoher Prozentsatz der Beschäftigten für Niedriglohn arbeitet.
Da können sich die Hoteliers natürlich freuen. Erst haben sie 1 Milliarde € als Steuererleichterung bekommen. Dann können sie ihre Beschäftigten auch noch so niedrig entlohnen, weil die Bundesagentur für Arbeit, also der Steuerzahler, die Löhne aufstockt, damit die Mitarbeiter davon überhaupt leben können.
Wir brauchen für Hessen endlich ein wirksames Tariftreue- und Vergabegesetz. Es kann nicht sein, dass Unternehmen Dumpinglöhne zahlen und die Umweltstandards unterlaufen und dann auch noch mit öffentlichen Aufträgen belohnt werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Ministerpräsident, damit könnten wir auch die kleinen und mittleren Unternehmen stärken, was Ihnen sonst so am Herzen liegt.
Herr Ministerpräsident, Sie sprachen davon, dass der Sozialstaat nicht zur Disposition stehe und den Schwachen verpflichtet sein müsse. Sie sprachen von Solidarität. Das ist ein sehr schönes Wort. Aber was heißt das denn praktisch? Was heißt das für die sozialen Einrichtungen in Hessen? – Dazu haben Sie nichts gesagt.
Der neue Sozialminister, Herr Grüttner, verheißt meiner Meinung nach in dieser Hinsicht nichts Gutes. Denn er hat an der „Operation düstere Zukunft“, dem Kürzungsprogramm für die Frauenhäuser, für die Schuldnerberatungen und andere soziale Einrichtungen mitgestrickt.
Sie haben davon gesprochen, dass die Schwachen die Solidarität der Starken bräuchten. Sie gehören aber seit 1999 einer Regierung an, die konsequent eine Politik gegen die Schwachen betreibt. Ich halte das deswegen nicht für glaubwürdig.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Ministerpräsident, Sie haben davon gesprochen, dass die Starken mit den Schwachen solidarisch sein müssen. Sagen Sie doch, wie Sie meinen, die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich in dieser Gesellschaft in Deutschland und Hessen schließen zu wollen und wie Sie den enormen Reichtum, den es in dieser Gesellschaft gibt, gerechter verteilen wollen.
Die Folgen der weltweiten Finanzkrise sind bewältigt, aber leider nur bei den Reichen. Laut Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung erreichte das Geldvermögen in Deutschland im ersten Quartal 2010 mit fast 4,8 Billionen € ein neues Allzeithoch. Auch die Zahl der Vermögensmillionäre liegt nach einem kurzzeitigen Rückgang jetzt auf einem neuen Rekordniveau. Noch nie gab es hierzulande so viele Millionäre wie heute.
4,8 Billionen € privates Geldvermögen und ein Allzeitrekord bei den Vermögensmillionären, während jedes siebte Kind in Armut lebt und die öffentlichen Kassen leer sind. Wenn man dieses Geldvermögen mit nur 1 % besteuern würde, was den Betroffenen nicht einmal wehtun würde, dann bräuchten wir in Hessen weder über die Schließung von Amtsgerichten noch über das Streichen des Schulobstprogramms reden.
(Beifall bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, der Hochtaunuskreis ist der reichste Landkreis in der Bundesrepublik. Er liegt bei der
Pro-Kopf-Kaufkraft auf Platz 1 – noch vor dem Landkreis Starnberg, der auf dem 2. Platz ist. Der Main-Taunus-Kreis liegt auf Platz 4. Wie sollen diese Starken Solidarität mit den Schwachen üben?
Herr Ministerpräsident, 15 % aller unter 15-Jährigen in Hessen leben von Hartz IV und von anderen Sozialleistungen. Dieses Ausmaß an Kinderarmut ist für solch ein reiches Land beschämend.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir haben die Situation, dass sich im Schatten der Frankfurter Bankentürme Kinder ihr Schulessen nicht leisten können. Herr Ministerpräsident, hier könnten Sie sofort tätig werden: durch kostenloses Mittagessen, echte Lernmittelfreiheit und die kostenlose Beförderung für Schüler – bis zum Abitur –, was gerade im ländlichen Raum für viele Familien eine enorme Hilfe bedeuten würde.
(Beifall bei der LINKEN)
Stattdessen wollen Sie beim Schulessenfonds des Landes kürzen. Angesichts der aktuellen Debatte ist die geplante Kürzung bei den Mitteln für die Sprachförderung von Kindern völlig verfehlt. Damit verkommen Ihre Ausführungen zur – ich zitiere – „Sprache als Schlüssel zur Teilhabe an Bildung“ wirklich zur Farce.
Meine Damen und Herren, die Finanzmarkt- und die Wirtschaftskrise haben den Bund und die Länder Milliarden Euro gekostet. Herr Ministerpräsident, Sie haben die Konjunkturprogramme erwähnt. Ich bin der Meinung, jetzt muss das Verursacherprinzip gelten. Die Hartz-VI-Bezieherin hat diese Krise nicht verschuldet. Sie trägt null Verantwortung für diese Krise. Aber bei den Leistungen für die Hartz-IV-Bezieherin wird gekürzt, während die Banken genauso weitermachen wie zuvor.
Jetzt ist es wieder der Finanzminister Ihrer Landesregierung, der sich im Bundesrat gegen eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte ausspricht und im Namen des Finanzplatzes Frankfurt sein Veto gegen die von der Bundesregierung geplante Neuregelung bei den sogenannten Verbriefungen einlegt. „Hessen schützt die Banken“, hat die „Frankfurter Rundschau“ deshalb getitelt.
Das ist kein Wunder; denn immerhin spendet die Deutsche Bank CDU und FDP je 200.000 € pro Jahr. Die Commerzbank hat das bis zum Jahr 2008 ebenfalls gemacht, bis sie dann selbst Spenden gebraucht hat. Böse Zungen behaupten, dass Abgeordnete zwar nicht an Weisungen, aber an Überweisungen gebunden sind.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU: Frechheit! Das ist vielleicht bei Ihnen so!)
Sie sagen, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise auch das Vertrauen in die Wirtschaftsordnung und in den Staat erschüttert hat. Das ist richtig. Laut einer Umfrage betrachtet eine große Mehrheit den Kapitalismus inzwischen äußerst skeptisch. Neun von zehn Deutschen wünschen sich eine neue Wirtschaftsordnung. Der Kapitalismus sorge weder für einen sozialen Ausgleich in der Gesellschaft noch für den Schutz der Umwelt. Das hat übrigens eine Umfrage der Bertelsmann Stiftung ergeben.
Das ist für die FDP natürlich ein Problem: Fast 90 % der Deutschen mögen den Kapitalismus nicht, und – wenn man den Umfragen Glauben schenkt – nicht einmal mehr die Hälfte des kläglichen Rests will die FDP wählen. 4 % für die FDP – ich finde das einfach, niedrig und gerecht.
Herr Ministerpräsident, Sie beklagen, dass die reichste Generation, die je gelebt hat, die meisten Schulden macht. Aber Sie verschweigen, dass nur 10 % der Bevölkerung über zwei Drittel des Vermögens verfügen. In regelmäßigen Abständen tauchen CDs mit Daten von Steuersündern auf. Das ist doch ein Beleg dafür, dass es gerade im hessischen Steuervollzug noch Potenziale gibt – um das einmal ganz vorsichtig zu sagen.
Herr Ministerpräsident, als Innenminister waren Sie ein strenger Verfechter von Law and Order. Ich hoffe sehr, Sie sorgen dafür, dass Menschen, die die öffentlichen Straßen mit den dicksten Autos befahren und in öffentlich finanzierten Opern immer in der ersten Reihe sitzen, auch einen finanziellen Beitrag zu deren Erhaltung leisten und die deutschen Steuergesetze einhalten.
(Beifall bei der LINKEN)
Deshalb brauchen wir mehr Steuerfahnder und mehr Betriebsprüfer. Aber noch immer steht in Hessen der Verdacht im Raum, dass unbequeme Steuerfahnder aus dem Dienst entfernt wurden, weil sie der Geldelite am Finanzplatz Frankfurt zu sehr auf die Füße gestiegen sind.
Herr Ministerpräsident, jetzt wollen Sie über eine Volksabstimmung die sogenannte Schuldenbremse in der Hessischen Verfassung verankern. Wir LINKE lehnen das gemeinsam mit den Gewerkschaften und vielen Sozialverbänden ab, weil man nicht jahrelang die öffentlichen Haushalte plündern und dann einfach „Haltet den Dieb!“ rufen kann.
Ihre Regierung hat allen Steuersenkungen der letzten Jahre zugestimmt: der Senkung der Unternehmenssteuern, der Senkung des Spitzensteuersatzes, der Entlastung von Hoteliers und vielem mehr. Deshalb fehlen den öffentlichen Haushalten über 50 Milliarden € pro Jahr. Diese falsche Steuerpolitik zugunsten von Reichen und Konzernen hat die Misere der öffentlichen Finanzen überhaupt erst verursacht. Es gibt keine Kostenexplosion auf der Ausgabenseite, sondern eine Erosion der Einnahmen.
Was wir LINKE fordern, ist nicht revolutionär: Wir fordern im Wesentlichen eine Steuergesetzgebung, wie es sie unter Helmut Kohl, also unter einer schwarz-gelben Bundesregierung, gab. Damals gab es einen Spitzensteuersatz von 53 %. Es gab eine Vermögensteuer und eine sehr viele höhere Besteuerung von Unternehmen. Das ist keine Utopie, sondern das war bis vor wenigen Jahren Realität. Dass die FDP angesichts des zaghaften Wirtschaftswachstums, das wir jetzt erleben, schon wieder weitere Steuersenkungen fordert, finde ich wirklich ungeheuerlich.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn die FDP will, dass die Menschen etwas vom Aufschwung mitbekommen, dann muss sie die Gewerkschaften bei ihrer Forderung nach höheren Löhnen für die Menschen unterstützen, die sich einschränken mussten, die auf Kurzarbeit waren und die um ihren Arbeitsplatz gebangt haben. Unterstützen Sie die Forderung nach höheren Löhnen, damit diese Menschen mehr Geld in der Tasche haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Leider haben alle anderen Parteien im Bundestag der Schuldenbremse zugestimmt. Wir halten sie für falsch; denn politische Gestaltungsmöglichkeiten werden minimiert, wenn es keine Verbesserungen auf der Einnahmenseite gibt.
Herr Ministerpräsident und Herr Finanzminister, diese Frage haben Sie nicht beantwortet. Wie wollen Sie denn die Vorgaben der Schuldenbremse ohne eine spürbare Verbesserung auf der Einnahmenseite einhalten? Im Haushalt 2011 wollen Sie 800 Millionen € einsparen, vor allem bei den Kommunen, aber auch bei der Bildung. Trotz dieser Einsparung beträgt die Neuverschuldung noch fast 3 Milliarden €.
Legen Sie doch den Menschen in Hessen einmal die Rechnung vor, wie Sie in den nächsten Jahren Milliardenbeträge im Haushalt einsparen und das strukturelle Defizit abbauen wollen. Die Kürzungen bei den Hochschulen brachten Ihnen 30 Millionen €, die Schließungen von Gerichtsstandorten magere 2 Millionen €. Wie viele Lehrer wollen Sie entlassen? Wie viele Schulen und wie viele Hochschulen wollen Sie schließen, und wie viel Personal wollen Sie abbauen, um die Vorgaben der Schuldenbremse zu erreichen, wenn Sie nicht damit rechnen, dass es zusätzliche Einnahmen aufgrund einer anderen Steuerpolitik gibt?
Der hessische DGB-Vorsitzende hat recht, wenn er sagt, die Schuldenbremse ist eine „Hessen-Bremse“; denn was hilft es, wenn das Land zwar keine neuen Schulden mehr aufnimmt, die öffentliche Infrastruktur, die Bildungseinrichtungen und das Sozialsystem dabei aber kaputtgehen?
Die Schuldenbremse ist eine Sozialbremse, weil dadurch der Erhalt sozialer Einrichtungen auf Kosten der Schwachen in der Gesellschaft infrage gestellt wird. Sie ist eine Arbeitsplatzbremse, weil sie verhindert, dass öffentliche Beschäftigung im Bereich von Gesundheit, Bildung und Kinderbetreuung ausgeweitet wird. Sie wird im Gegenteil zu einem weiteren Stellenabbau auf der Ebene des Landes und der Kommunen führen.
Die Schuldenbremse ist auch eine Bildungsbremse; denn durch sie werden die Schulen und die Hochschulen in diesem Land gefährdet, die schon jetzt chronisch unterfinanziert sind. Sie verhindert eine bessere Ausstattung von Bibliotheken und von Klassenzimmern, und sie wird den Ausbau von Ganztagsschulen unmöglich machen.
(Beifall bei der LINKEN)
Die sogenannte Schuldenbremse ist eine Entwicklungsbremse für Hessen. Sie hat nichts mit Generationengerechtigkeit zu tun. Im Gegenteil, sie beschneidet die Chancen, die Bildungsmöglichkeiten und die Infrastruktur für die kommenden Generationen.
Jetzt erklären Sie, das solle nicht zulasten der Kommunen gehen. Nachdem Sie bei den Kommunen 360 Millionen € kürzen wollen, genießen Sie dort ein besonders „großes“ Vertrauen. Sie sprachen von einer fairen Partnerschaft zwischen Land und Kommunen, und Sie sprechen von einem Schutzschirm für die Kommunen – wobei es uns sehr freut, dass Sie an dieser Stelle die Begriffe der LINKEN übernommen haben. Wir haben vor Kurzem einen Antrag einen Schutzschirm für die Kommunen betreffend eingebracht.
Nur leider haben Sie die Inhalte nicht übernommen. Ein Schuldenfonds und eine partielle Schuldenübernahme durch das Land lösen nämlich nicht das grundsätzliche strukturelle Problem der kommunalen Finanzen. Die Einnahmen der Kommunen müssen verbessert werden, und das geht nur über eine andere Steuerpolitik.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Ministerpräsident, wenn Sie den Kommunen etwas Gutes tun wollen, machen Sie die Kürzung rückgängig, denn die Kommunen sind systemrelevant. Sie sorgen für die Infrastruktur sowie für Sport-, Bildungs- und Freizeitangebote.
Meine Damen und Herren, ehrenamtliches Engagement ist ein wichtiges Fundament der Gesellschaft. Sie haben das in Ihrer Rede betont; wir sehen das auch so. Aber Aufgaben der kommunalen Daseinsvorsorge und Aufgaben der Infrastruktur dürfen nicht auf ehrenamtlich Tätige abgewälzt werden, wie es in Ihrer Rede angeklungen ist, sondern sie müssen Aufgabe der öffentlichen Hand bleiben.
(Beifall bei der LINKEN)
Um Schwimmbäder, Jugendzentren und bezahlbare kulturelle Angebote zu erhalten, darf die Landesregierung keinen weiteren Steuersenkungen im Bundesrat zustimmen. Aber leider, statt Vermögende zur Kasse zu bitten, wollen Sie mit Bayern und Baden-Württemberg vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Länderfinanzausgleich klagen. Damit kündigen Sie die Solidarität zwischen den Bundesländern auf. Die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West, zwischen strukturschwachen und wirtschaftsstarken Regionen muss das Ziel bleiben. Deshalb halten wir dieses Vorgehen für grundfalsch.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Ministerpräsident, Sie haben den Lehrerinnen und Lehrern in Hessen einen Dank für ihre wertvolle Arbeit ausgesprochen. Vielleicht hätten Sie dazu auch sagen sollen, dass Sie die Arbeit jedes einzelnen Lehrers so toll finden, dass die in Zukunft bis zum Alter von 67 ½ Jahren arbeiten sollen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ihre Regierung will im Rahmen der Dienstrechtsreform das Pensionsalter auf 67 Jahre erhöhen. Deshalb demonstrieren die DGB-Gewerkschaften gerade vor der Staatskanzlei gegen Ihre Pläne. Vielleicht sollten Sie einmal persönlich vorbeischauen und dort Ihren Dank an die Lehrer wiederholen. Meine Fraktion hält die Pension ab 67 Jahre für genauso falsch wie die Rente ab 67. Deshalb haben wir an den heutigen Protesten gegen die Erhöhung des Pensionsalters teilgenommen und waren dort präsent.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Erhöhung der Lebensarbeitszeit ist eine Pensionskürzung. Sie vermindert die Chancen junger Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Eine Verkürzung der Wochen- und der Lebensarbeitszeit wäre angebracht, um Arbeit gerechter zu verteilen und neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Wenn Ihnen die Lehrer am Herzen liegen, dann sollten Sie den Lehrerstreik im letzten Jahr und die Forderungen der Lehrer ernst nehmen. Senken Sie die Pflichtstundenzahl. Verringern Sie die Arbeitsbelastung von Lehrerinnen und Lehrern, damit sie mehr Zeit für ihre Schüler haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, ich halte es für ein Unding, dass das Land nicht nur zunehmend Lehrkräfte befristet einstellt, sondern Verträge über die Dauer eines Schuljahres abschließt. Das heißt, Sie parken die Lehrer in den sechswöchigen Ferien bei der Bundesagentur für Arbeit. Diese Lehrer sind gezwungen, sich arbeitslos zu melden, weil das Land Kosten sparen will. Das halte ich für völlig absurd.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Ministerpräsident, Sie fordern engagierte Lehrer. Ich denke, die haben wir. Aber ohne eine engagierte Landesregierung können auch engagierte Lehrer nur wenig ausrichten.
Meine Damen und Herren, die LINKE fordert eine Ausweitung öffentlicher Beschäftigung. Und wir fordern eine Ausweitung der Rechte öffentlich Beschäftigter. Ihre Regierung hat seit 1999 die Mitbestimmungsrechte systematisch ausgehöhlt und behandelt die Landesbeschäftigten nach Gutsherrenart. Landesbeschäftigte sind aber nicht der Hofstaat eines Ministerpräsidenten, sondern Beschäftigte, die Rechte haben.
Die hessischen Beamten haben bundesweit die längste Wochenarbeitszeit. Und jetzt sollen Polizisten und Feuerwehrleute zukünftig erst mit 62 Jahren in den Ruhestand gehen können. Statt sich mit warmen Worten bei diesen Menschen zu bedanken, sollten Sie lieber Ihre Dienstrechtsreform in die Tonne klopfen, Herr Ministerpräsident.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Ministerpräsident, Sie sprachen davon – das hat mich wirklich überrascht –, dass nicht der maximale Gewinn, sondern der Mensch im Mittelpunkt der wirtschaftlichen Ordnung sein muss. Also Menschen vor Profite – das fordern wir LINKE schon lange –, aber ich frage mich, was die praktische Konsequenz daraus ist. Das haben Sie leider nicht gesagt. Heißt das, dass die Menschen rund um den Frankfurter Flughafen zukünftig ruhig schlafen können, weil die Nachtruhe dieser Menschen wichtiger als die Gewinne von Fraport und Lufthansa ist? Heißt das, dass Sie das versprochene Nachtflugverbot jetzt doch umsetzen?
Herr Ministerpräsident, Sie sagten, die Landesregierung wolle sich nicht zur Sachwalterin von Sonderinteressen machen lassen und Einzelinteressen bedienen. Das heißt das denn? Heißt das, dass Sie eine Bundesratsinitiative starten, um das Mehrwertsteuerprivileg für Hoteliers wieder abzuschaffen? – Wenn Sie sich dagegen wenden, dass die Interessen einzelner Lobbygruppen zu praktischer Politik werden, müssten Sie auch die gerade beschlossenen Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke kategorisch ablehnen.
(Beifall bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, wir haben eine unsägliche Kampagne der Atomkonzerne und ihrer Verbündeten in anderen Teilen der Wirtschaft erlebt. Es sind 50 Herren – es sind nur Männer dabei –, die ihre wirtschaftliche Macht missbrauchen, um Laufzeitverlängerungen gegen eine Mehrheit in der Bevölkerung durchzusetzen. Und das Tragische ist, dass diese Kampagne Erfolg hat, dass die Kanzlerin eingeknickt ist. Meine Damen und Herren, das sagt sehr viel über unsere Demokratie aus.
Es gibt ein Sparpaket, das vorsieht, dass Hartz-IV-Beziehern das Elterngeld gestrichen wird. Ich unterstelle, dass die Hartz-IV-Bezieher in ihrer Mehrheit das nicht richtig finden. Aber es wird keine Delegation von Hartz-IV-Beziehern ins Kanzleramt eingeladen, um darüber zu verhandeln. Allein die Vorstellung, dass so etwas passieren könnte, ist vollkommen absurd, denn die Regierung entscheidet das einfach, und der Hartz-IV-Empfänger muss das hinnehmen. Aber wenn die Bundesregierung die Atomkonzerne zur Kasse bitten, eine Brennelementesteuer einführen will und die Atomkonzerne damit nicht einverstanden sind, dann trifft man sich zum Vermittlungsgipfel im Kanzleramt. Es kann nicht angehen, dass die Interessen einer handvoll Angehöriger der Wirtschaftselite berücksichtigt werden, aber die Interessen einer breiten Mehrheit ungehört bleiben.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Ministerpräsident, Sie sagten in Ihrer Regierungserklärung, die Demokratie brauche Konsens in wesentlichen Fragen. Den gibt es in der Frage der Atomkraft nicht, im Gegenteil haben Hunderttausende in den letzten Monaten den Dissens auf die Straße getragen. Ich bin sicher, dass die Anti-AKW-Bewegung dem Druck von oben auch Druck von unten entgegensetzen wird – bei der Großdemonstration am 18. September in Berlin und bei den Protesten gegen den Castor.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn wir von Biblis sprechen, dann sprechen wir über das Leben und die Gesundheit der Menschen in einer ganzen Region und darüber hinaus. Biblis ist der älteste und unsicherste Reaktor Deutschlands und liegt zudem in unmittelbarer Nähe zu einem Knotenpunkt des europäischen Luftverkehrs. Biblis kann nicht gegen Flugzeugabstürze gesichert werden, und das birgt ein unkalkulierbares Risiko. Aber die Landesregierung sorgte sich bisher lieber um die angebliche „Verspargelung“ der Landwirtschaft durch Windräder als um die Risiken der Atomenergie, denn die Betreiber verdienen täglich 1 Million € an jedem abgeschriebenen Kraftwerk. Deshalb dürfen die trotz aller Risiken am Netz bleiben.
Fakt ist: Es gibt kein Endlager für radiaktive Abfälle. Auf dieses Problem hat weder die Atomlobby noch ihr parlamentarischer Arm eine Antwort gefunden. Sicher ist bei der Atomkraft nur das Risiko. Biblis wird nachweislich für die Versorgungssicherheit überhaupt nicht benötigt. Deshalb muss Biblis endlich vom Netz gehen, damit – um es mit den Worten des Ministerpräsidenten zu sagen – der Mensch und nicht die Gewinne im Mittelpunkt stehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Jüngst erklärte der Fraktionsvorsitzende der CDU, Christean Wagner, die Union müsse eigene Überzeugungen auch gegen Vorbehalte in der Bevölkerung durchsetzen. Eine Orientierung an der aktuellen Mode sei falsch. Man müsse an der Kernenergienutzung festhalten, auch wenn sich eine breite Mehrheit der Bevölkerung dagegen ausspreche. Die jetzige Diskussion habe den Wähler verwirrt.
Herr Wagner, abgesehen davon, dass Sie in der Tat über jeden Vorwurf erhaben sind, sich an der aktuellen Mode zu orientieren, frage ich Sie: Was ist das für ein Demokratieverständnis? – Sie sagen, eine breite, aber verwirrte Mehrheit spricht sich gegen Atomenergie aus. Und dass der CDU diese Mehrheitsmeinung völlig schnuppe sein sollte. – Das ist Ihr Demokratieverständnis, und das ist genau das Problem.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Ministerpräsident, wenn Sie sagen, es müsse Schluss damit sein, dass Ideologen einer Lösung der Vernunft im Wege stehen, dann kann ich das nur so verstehen, dass die Tage Christean Wagners als Fraktionsvorsitzender der CDU gezählt sind. Das könnten wir nur begrüßen, weil mit dem Abschied von fossilen Energieträgern auch der Abschied von Polit-Fossilen einhergehen muss.
(Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit des Abg. Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Frau Ministerin – Frau Puttrich ist nicht da –, Ihre Vorgängerin hatte über eineinhalb Jahre Zeit, Konzepte für eine Energiewende vorzulegen. Aus dem Ministerium kam nichts: kein Gesetzentwurf, keine Initiativen, keine Vorstöße. Bisher hat das hessische Umweltministerium in erster Linie als Außenstelle von RWE und E.ON agiert und deren Profitinteresse über die Sicherheit der Bevölkerung gestellt.
Statt Musterland ist Hessen Schlusslicht beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Wir sind gespannt, ob von der neuen Ministerin mehr als von ihrer Vorgängerin kommt, was den dringend nötigen Umstieg auf erneuerbare Energien angeht. Sie ist ja in der glücklichen Position, dass es eigentlich nur besser werden kann, denn die Fußstapfen, in die sie tritt, sind von überschaubarem Ausmaß.
Die Landesregierung hat das Ziel ausgegeben, dass bis 2020 20 % der in Hessen verbrauchten Energie aus Erneuerbaren stammen sollen. Das ist kein ehrgeiziges Ziel. Das bleibt weit hinter dem zurück, was dringend notwendig wäre. Noch dazu haben Sie eine Nachhaltigkeitskonferenz ins Leben gerufen, die eine reine Showveranstaltung der Landesregierung ist.
Meine Damen und Herren, das ändert aber nichts daran, dass aus ökologischen und ökonomischen Gründen eine radikale Wende in der Energiepolitik notwendig ist. Durch Ihre Untätigkeit verschärfen Sie nur den Bruch, den nachfolgende Generationen irgendwann einmal vollziehen müssen, weil die Ressourcen endlich sind. Langfristig führt überhaupt kein Weg an einem Umstieg auf erneuerbare Energien vorbei.
(Beifall bei der LINKEN und des Abg. Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Herr Ministerpräsident, Sie nehmen gerne das Wort „Generationengerechtigkeit“ in den Mund und sprechen von der Verantwortung für kommende Generationen – dann ist aber Klimaschutz die Verpflichtung Nr. 1.
Liebe CDU-, liebe FDP-Fraktion: Ihr Problem mit Sonne und Wind ist, dass man beides nicht privatisieren kann. Das kann nicht einmal die FDP ernsthaft fordern, und genau das ist Ihr Problem damit.
Auch in der Verkehrspolitik müssen wir neue Wege gehen. Sie aber privilegieren den Flug- und Straßenverkehr, statt Konzepte zur Verkehrsvermeidung vorzulegen und endlich den öffentlichen Personen- und Güterverkehr auf der Schiene zur Priorität zu erheben.
(Beifall bei der LINKEN)
Neben dem Verkehr ist der Energieverbrauch der Gebäude einer der wichtigsten Faktoren. Sie aber wollen den Kommunen an dieser Stelle Möglichkeiten zur Durchsetzung des effektiven Klimaschutzes nehmen, anstatt das zu fördern.
Herr Ministerpräsident, leider haben Sie zu alledem nichts gesagt. Sie haben länger über den Sport in Hessen gesprochen als über diese drängenden Zukunftsaufgaben. Ich kann verstehen, dass Ihnen das Thema Sport angenehmer ist als das Thema Energiepolitik, wenn ich mir die energiepolitische Bilanz Ihrer Landesregierung ansehe. Ich meine aber, eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben, über die sich die Menschen in Hessen Sorgen und Gedanken machen, hätte eine etwas größere Rolle in Ihrer Regierungserklärung spielen müssen.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie haben einen neuen Stil des fairen und konstruktiven Miteinanders angekündigt. Meine Fraktion begrüßt es, dass Sie sich von den menschenverachtenden Parolen eines Thilo Sarrazin distanziert haben. Denn seine Äußerungen sind unerträglich und rassistisch.
Herr Ministerpräsident, was aber ist mit Ihrem Fraktionskollegen, dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Hans-Jürgen Irmer? Der polemisiert immer wieder gegen Migranten und Muslime, und auch noch nach den jüngsten Äußerungen hat er sich hinter Thilo Sarrazin gestellt
Man kann nicht über Sarrazin schimpfen und zu Hans-Jürgen Irmer schweigen.
Wenn Sie ernsthaft und glaubwürdig gegen die Hetzparolen eines Herrn Sarrazin vorgehen wollen, dann müssen Sie als Ministerpräsident und Vorsitzender der hessischen CDU als Erstes dafür sorgen, dass ein Herr Irmer keinen Platz mehr in Ihrer Fraktionsspitze hat.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich frage mich: Wo ist in dieser ganzen Debatte eigentlich der Integrationsminister? Herr Hahn, der sich sonst ungefragt zu allem und jedem äußert, hält sich in dieser Debatte doch sehr bedeckt. Ich finde, es hätte dem hessischen Integrationsminister gut angestanden, wenn er sich vor die Musliminnen und Muslime in diesem Land gestellt hätte, wenn die derartig beleidigt und diffamiert werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Aber aus dem Ministerium kam dazu nicht eine einzige Pressemitteilung. Ich kann das nur darauf zurückführen, dass sich Herr Hahn mittlerweile schämt, dass er es war, der Thilo Sarrazin noch vor wenigen Monaten ins Hessische Integrationsministerium eingeladen und ihm dort ein Podium geboten hat, um über Chancen und Grenzen der Integration zu diskutieren.
Ein Mann, der Muslime beleidigt, über „Juden-Gene“ spricht und dem der Zentralrat der Juden den Eintritt in die NPD empfiehlt, durfte noch vor Kurzem über hessische Integrationspolitik mitdiskutieren. Herr Hahn, dazu kann man nur herzlichen Glückwunsch sagen – das sollte Ihnen allerdings wirklich peinlich sein.
(Beifall bei der LINKEN und des Abg. Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Herr Ministerpräsident, Sie sprechen von Integration und blenden dabei eines völlig aus: nämlich, dass Integration vor allem eine soziale Frage ist.
Wenn Kinder mit Migrationshintergrund im Bildungssystem benachteiligt werden, wenn sie bei gleicher Leistung seltener eine Gymnasialempfehlung bekommen, dann liegt dort ein Kern des Problems. Wenn Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt benachteiligt sind und häufig zu niedrigeren Löhnen arbeiten müssen, dann liegt dort ein Kern des Problems.
Herr Ministerpräsident, wenn Sie die Integration wirklich voranbringen wollen, dann setzen Sie sich doch dafür ein, dass ausländische Berufsabschlüsse in Hessen endlich anerkannt werden.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Tarek Al-Wazir und Ellen Enslin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Es ist doch ein Skandal, wenn hoch qualifizierte Menschen zu Niedriglöhnen arbeiten, weil ihre Abschlüsse in Hessen nicht anerkannt werden. Natürlich passt das den Unternehmen teilweise ganz gut in den Kram.
Herr Ministerpräsident, Sie angekündigt, einen besonderen Schwerpunkt auf die Bildungspolitik legen zu wollen.
Das wollte auch Ihr Vorgänger. Aber statt Bildungsland Nr. 1, wie es der ehemalige Ministerpräsident einst versprochen hatte, ist Hessen Schlusslicht bei den Bildungsausgaben im Vergleich zu den anderen Flächenstaaten. Und trotzdem will die Landesregierung im nächsten Jahr bei den hessischen Schulen und Hochschulen 75 Millionen € kürzen. Meine Damen und Herren, damit sparen Sie die hessische Bildung weiter kaputt.
Bei der Kinderbetreuung lassen Sie die Kommunen bei der Umsetzung der Mindestverordnung im Regen stehen, anstatt alles daran zu setzen, die Betreuungsplätze nach Anzahl und in der Qualität zu erhöhen. Stattdessen schimpfen Sie auf Rheinland-Pfalz, weil die aus ihren Haushaltsmitteln Kitas ausbauen.
(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU) geht zu Ministerpräsident Volker Bouffier.)
– Ich weiß nicht, ob letzte Anweisungen gegeben werden müssen. Auf jeden Fall ist das hier bei Ihnen stark frequentiert, Herr Bouffier.
(Volker Bouffier, Ministerpräsident: Ich brauche keine Anweisungen, ich kann das ganz alleine. – Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Er braucht keine Anweisungen?)
Meine Damen und Herren, es ist eine Frage der Prioritätensetzung: Wollen wir die frühkindliche Bildung fördern, oder wollen wir sie nicht fördern?
Sie kündigen an, Sie wollen das Betreuungsangebot bedarfsgerecht durch mehr Angebote, mehr Plätze, mehr Erzieher ausbauen. Derzeit aber werden in Hessen nur 5 % aller unter Dreijährigen ganztägig betreut. Auch hier liegt Hessen unter dem Bundesdurchschnitt.
(Beifall des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))
Ich frage Sie: Wie wollen Sie das Ziel der Bundesregierung einer Ganztagsbetreuungsquote von 30 % erreichen? Auch dazu haben Sie leider im Detail überhaupt nichts gesagt.
Die Finanzmisere in der Bildung wollen Sie jetzt an die Schulen abschieben, damit die den Mangel alleine verwalten. Wir halten Ihr Projekt der selbständigen Schule in Wahrheit für das Projekt der alleingelassenen Schule.
(Beifall bei LINKEN)
Meine Damen und Herren, noch immer haben wir in Hessen zu wenige echte Ganztagsschulen. Die Schulsozialarbeit wurde gestrichen. Noch immer führt die Einführung von G 8 zu Problemen an den Schulen. Viele Schülerinnen und Schüler leiden unter dem zunehmenden Druck und der Verdichtung des Unterrichts. Vielleicht ist G 8 ein Konjunkturprogramm für Nachhilfeanbieter, zumindest für diejenigen, die es sich leisten können, auf private Nachhilfeangebote zurückzugreifen, damit ihre Kinder den Stoff aus neun Jahren jetzt in acht lernen können.
(Ministerpräsident Volker Bouffier: Ich frage mich, ob Sie auch irgendetwas gut an dem finden, was ich vorgetragen habe?)
– Herr Ministerpräsident, hätten Sie mir ein wenig zugehört – ich dachte, ich stehe unter verschärfter Beobachtung; aber davon merke ich nichts –: An einer Stelle habe ich Sie gelobt. Aber das sage ich nicht noch einmal, das müssen Sie jetzt im Protokoll nachlesen.
(Beifall der Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE) und Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Ministerpräsident Volker Bouffier: Das habe ich schon mitbekommen!)
Jetzt aber erklären Sie, Sie wollten die Durchlässigkeit des gegliederten Schulwesens weiter erhöhen.
- Wenn Sie Ihre Bürgersprechstunde gleich hier abhalten, dann können wir direkt in den neuen Stil des kommunikativen Miteinanders eintreten.
(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt redet er einmal mit der Opposition, und dann ist es auch wieder nicht recht! – Ministerpräsident Volker Bouffier: Immer ist es falsch!)
Die Durchlässigkeit des hessischen Schulwesens ist doch spätestens seit der Einführung von G 8 obsolet. Herr Ministerpräsident, sagen Sie doch einmal: Wie viele Hauptschüler, wie viele Förderschüler kommen denn noch zu einem höheren Bildungsabschluss? Das ist ein verschwindend kleiner Teil. Trotzdem aber hält Ihre Regierung am dreigliedrigen Schulsystem fest – das sozial hoch selektiv ist.
Bildung ist in Deutschland wie in keinem anderen Industrieland abhängig von Einkommen und Bildungsgrad der Eltern.
Kinder aus armen Familien, Kinder mit Behinderungen und Kinder mit Migrationshintergrund sind vor allem durch die frühe Selektion besonders benachteiligt. Deshalb brauchen wir längeres gemeinsames Lernen und eine Schule für alle Kinder.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Ministerpräsident, wenn Sie sagen, Sie wollen keine neuen Experimente, dann heißt das im Klartext, Sie wollen die Bildungsbenachteiligung dieser Kinder und Jugendlichen beibehalten. Das halte ich für grundfalsch.
Herr Ministerpräsident, ich frage mich auch: Wann setzen Sie die UN-Menschenrechtskonvention um und sorgen dafür, dass Kinder mit Behinderung einen Anspruch auf den Besuch einer Regelschule haben? Und wann beginnen Sie, die Schulen personell und materiell so auszustatten, dass sie dieser Aufgabe auch gerecht werden können: durch kleinere Klassen und durch individuelle Förderung?
(Beifall bei der LINKEN)
Die Hessische Landesregierung behauptet, dass das Land Hessen in den letzten Jahren immer mehr Geld für die Bildung ausgegeben habe. Bei den Hochschulen brüstet sich die zuständige Ministerin – sie sitzt gerade hier –, dass die Mittel von 960 Millionen € im Jahr 1999 auf über 1,4 Milliarden € in diesem Jahr gesteigert wurden.
Die Zahlen sind aber nur die halbe Wahrheit; denn auch die Zahl der Studierenden hat sich deutlich erhöht. Auch die Kosten der Hochschulen sind gestiegen. Wenn man den Anstieg der Studierendenzahlen und die Inflation berücksichtigt und sich die Ausgaben pro Studierenden ansieht – das ist die entscheidende Größe –, dann ergibt sich ein anderes Bild. Dann ergibt sich, dass den Hochschulen im Jahr 2015 fast 20 % weniger Mittel pro Studierenden zur Verfügung stehen als noch im Jahr 1999. Was daran ein Erfolg der Bildungspolitik dieser Landesregierung sein soll, bleibt mir schleierhaft.
(Beifall bei der LINKEN)
Mit dem Hochschulpakt bekommen die Hochschulen weniger Geld, müssen aber mehr Studierende ausbilden.
Herr Ministerpräsident, Sie sagten, Sie hätten den Hochschulpakt „gemeinsam“ mit den Hochschulen beschlossen, um eine verlässliche Grundlage zu garantieren. Ich stelle fest, als Träger des „Big Brother Award“ beherrschen Sie Neusprech. Denn von „gemeinsam“ kann an dieser Stelle überhaupt keine Rede sein. Sie haben die Hochschulen erpresst. Die haben sich gegen die Kürzungen gewehrt, und es gab eine Protokollnotiz, dass die Mehrheit der Hochschulpräsidien diese Vereinbarung ablehnt.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Hochschulen haben vollkommen recht; denn die Aufgaben sind schon jetzt nicht zu bewerkstelligen. Ab 2012 kommen die sogenannten Doppeljahrgänge an die Hochschulen wegen der Verkürzung der gymnasialen Schulzeit durch G 8.
Meine Damen und Herren, angesichts dessen gibt es nur zwei realistische Szenarien: entweder drastische Zulassungsbeschränkungen oder eine weitere Verschlechterung in der Ausbildung. Ich unterstelle Ihnen: Sie kürzen auch deshalb an den Hochschulen, weil Sie das Ziel verfolgen, die Studiengebühren wieder einzuführen, weil Ihnen bis heute stinkt, dass eine rot-rot-grüne Mehrheit sie 2008 abgeschafft hat.
Weiterhin treiben Sie die Differenzierung in Elite- und Masseeinrichtungen voran. Die Privatisierung im Bildungsbereich schreitet voran. Die Landesregierung spart zwar bei den öffentlichen Schulen und Hochschulen, aber für die private European Business School haben Sie 30 Millionen € übrig. Die Hälfte davon geht in die Tiefgarage für die European Business School hier in Wiesbaden. Das ist wirklich eine „tolle“ Form der Bildungsinvestition.
Herr Rentsch ist gerade nicht da. Ich wollte es eigentlich nicht ansprechen, aber nachdem er in seiner Rede diese Ode an die Elite angestimmt hat, kann ich nicht umhin, darauf hinzuweisen, was denn der Dank dieser sogenannten Elitestudenten ist. Sie haben am Wochenende ihren Dank zum Ausdruck gebracht und sich bei einem an der EBS offensichtlich üblichen Aufnahmeritual derartig betrunken, dass Anwohner die Polizei gerufen haben, die dann samt Hubschrauber sechs Stunden lang im Einsatz war, um diese sogenannten Elitestudenten aus den Weinbergen von Oestrich-Winkel wieder herauszuholen und sie zur Ausnüchterung ins Krankenhaus zu bringen. Tolle Elite, Herr Rentsch, davon brauchen wir wirklich mehr.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wo hat Herr Rentsch noch gleich studiert?
Meine Damen und Herren, auch in Hessen steigen die Zahlen der Schüler an Privatschulen. Menschen, die es sich leisten können, bezahlen für bessere Bildung und bessere Bedingungen für ihre Kinder, während an öffentlichen Schulen Lehrermangel herrscht und die Klassen zu groß sind. Das halten wir für eine fatale Entwicklung.
(Beifall bei der LINKEN)
Herr Ministerpräsident, wer gesellschaftliches Engagement fordert, der muss den Menschen auch politische Mitsprache einräumen. Hessen hat die höchsten Hürden für Volksbegehren, was direkte Demokratie faktisch verhindert. Sie haben heute ein paarmal das Volksbegehren von Hamburg hochgejubelt. Das wäre in Hessen bei den hier geltenden Hürden überhaupt nicht möglich gewesen. Auch Ihr aktueller Gesetzentwurf, den Sie dazu eingebracht haben, ist vor allem von der Angst vor dem Bürger geprägt.
Herr Ministerpräsident, Sie loben das Land Hessen dafür, dass es bei den extremistisch motivierten Straftaten gut dastehe, wobei ich den Satz ein bisschen doppeldeutig finde, aber gut. Ich hätte wenigstens ein paar Worte zu der Zunahme von rechtsradikaler Gewalt und der Aktivitäten von Neonazis erwartet, die wir in Hessen beobachten können. Herr Ministerpräsident, vor allem hätte ich gerne gehört, was die Landesregierung dagegen zu tun gedenkt.
Bei Farbschmierereien an Ihrer eigenen Kanzlei kommt ein mobiles Einsatzkommando zum Einsatz. Aber was ist mit den Menschen in Hessen, die von Neonazis bedroht werden?
(Zuruf des Abg. Hugo Klein (Freigericht) (CDU))
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
(Demonstrativer Beifall bei Abgeordneten der CDU)
– Meine Herren, provozieren Sie mich nicht. Ich habe noch 27 Minuten und 25 Sekunden Redezeit. Provozieren Sie mich nicht, das auszuschöpfen.
(Heiterkeit bei der LINKEN – Peter Seyffardt (CDU): Das ist eine Drohung! – Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die verstehen nur Spaßpädagogik! Jetzt noch zehn Minuten!)
Die Regierungserklärung war überschrieben mit den Worten „Gemeinsam für ein starkes Hessen“. „In Hessen nichts Neues“ hätte meiner Meinung nach besser gepasst. Herr Ministerpräsident, Ihre Regierungserklärung gibt keine Antworten auf die drängenden Fragen in Hessen. Ihr Kabinett ist auch nicht, wie angekündigt, jünger oder weiblicher geworden. Denn auch ein paar jüngere Staatssekretäre können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ideen dieser Regierung von vorgestern sind. Sie servieren alten Wein in noch älteren Schläuchen.
(Zuruf des Ministers Boris Rhein)
– Sie fühlen sich offensichtlich angesprochen, Herr Rhein. – Das spricht nicht für Ihre Regierung, aber vor allem ist es ein Problem für die Menschen in Hessen.
(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Boris ist alter Rhein in alten Schläuchen!)
Herr Ministerpräsident, Sie sprechen von einem neuen Miteinander, auch hier im Haus. Aber Sie sagen weder, was Sie anders machen wollen, noch was vorher falsch gewesen ist und was Ihr Vorgänger falsch gemacht hat. Sie wollen einen neuen Stil prägen und Angebote machen. Herr Ministerpräsident, das wäre in der Tat ein Bruch mit dem Stil des bisherigen Ministerpräsidenten, aber auch mit der Arbeitsweise des bisherigen Innenministers. Denn auch Sie, Herr Bouffier, standen in der Vergangenheit eher für Ausgrenzung als für Zusammenarbeit, und das sowohl innerhalb dieses Parlaments als auch außerhalb.
Deshalb sehen wir auch durch diese Regierungserklärung kein Zeichen des Aufbruchs oder der Erneuerung. Auf Koch folgt sein Kellner, und die Rezepte bleiben die alten.
DIE LINKE wird Opposition sein gegen diese Regierung, und ich bin sicher: Schwarz-Gelb braucht sowohl auf Landesebene als auf Bundesebene Druck und einen heißen Herbst gegen die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke, gegen Sozialabbau und gegen diese Sparpolitik auf Kosten der Schwachen. – Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU)