Rede zum Industriestandort Hessen
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren!
Da Sie sonst niemand lobt, müssen Sie es selbst tun. In diesem Sinne diskutierten wir in dieser Plenarwoche heute schon den zweiten Antrag der Regierungsfraktionen, in dem sie sich selbst bejubeln. Ich bin der Meinung, es ist eine ziemliche Zeitverschwendung, mit was Sie hier das Parlament beschäftigen.
(Zuruf von der CDU: Einer muss doch die Wahrheit sagen!)
Herr Pentz, ich bin im Übrigen auch nicht der Meinung, dass der Landtag die Landesregierung um etwas bitten sollte. Der Landtag ist der Gesetzgeber. Der Landtag ist das Organ, das die Landesregierung kontrollieren soll. Deswegen finde ich, ehrlich gesagt, die Bitte in dem Antrag ein bisschen deplatziert.
Vorneweg: Natürlich ist es gut, dass Hessen eine starke Industrie hat. Es ist natürlich auch richtig, das anzuerkennen und zu fördern.
Mit dem Gerede von der Dienstleistungsgesellschaft und der Wissensökonomie wurde jahrelang der Eindruck erweckt, man bräuchte die Industrieproduktion eigentlich gar nicht mehr. Das ist definitiv nicht so. Natürlich werden materielle Werte immer noch in Fabriken erarbeitet, nicht aber am Bildschirm oder an der Börse.
(Beifall bei der LINKEN)
Genau deshalb sind wir auch der Meinung, die Landesregierung muss in der Industriepolitik eine aktive Rolle spielen – sei es im Fall Opel oder im Fall Manroland. Ich will nur daran erinnern: Im Fall Manroland hielt es der Ministerpräsident nicht einmal für nötig, zu den Beschäftigten zu sprechen, als sie sich zur Kundgebung vor der Staatskanzlei versammelt hatten. Nur so viel dazu, wie sehr Ihnen die Industrie in Hessen am Herzen liegt.
Meine Damen und Herren, die Entwicklung darf nicht einfach dem freien Spiel der Investoren überlassen werden. Was hier gefragt ist, das ist eine Regierung, die klarmacht, dass sie am Erhalt der Arbeitsplätze und nicht nur am Einkommen der Eigentümer interessiert ist – und deshalb auch Angebote macht, aber auch Bedingungen stellt.
Gerade bei der Automobilindustrie halte ich es schon für notwendig, dass auch von der Landesregierung Impulse für neue industriepolitische Konzepte ausgehen. Das Öl geht zur Neige – darauf ist bereits hingewiesen worden. Wir haben eine sich verschärfende Klimakrise. Und ich meine, den sozialökologischen Umbau der Wirtschaft darf man nicht alleine den Unternehmen überlassen. Wenn da nicht auch politisch gesteuert wird, wird es irgendwann zu einem äußerst harten Bruch kommen – mit allen sozialen und wirtschaftlichen Folgen.
Ich befürchte – und das zeigt sich heute auch in der Automobilindustrie –, die Unternehmen denken nicht über Jahrzehnte hinaus. Dafür braucht man politische Leitplanken und industriepolitische Konzepte seitens der Landesregierung.
(Beifall bei der LINKEN)
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass wir natürlich Arbeitsplätze in der Industrie für wichtig halten. Wir wollen die Arbeitsplätze in der Industrie auch erhalten.
Aber die Arbeitsplätze in der Industrie sind nicht mehr wert als die Frauenarbeitsplätze im Dienstleistungssektor – um auch das einmal ganz klar zu sagen. Momentan fallen bei Neckermann und bei Schlecker mehr als 3.000 Arbeitsplätze in Hessen weg.
(Minister Florian Rentsch: Das war die gestrige Debatte!)
– Gestern war das leider nicht die Debatte. Herr Rentsch, das ist genau das Problem: dass die Kollegin Lannert hier gestern zehn Minuten lang geredet hat, aber kein Wort zu den Schlecker-Beschäftigten und zu Neckermann gesagt hat.
(Beifall bei der LINKEN und des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
Herr Rentsch, es wäre doch viel sinnvoller, wenn wir hier nicht über Anträge reden würden, die beschreiben, was die Landesregierung hier und dort tut und in denen man sie bittet oder lobt oder sonst etwas, sondern Sie hätten das Thema Neckermann zum Thema eines Antrags hier im Landtag machen müssen. Ich glaube, die Menschen in diesem Land brauchen keine Regierung, die sich selbst lobt, sondern sie brauchen eine Regierung, die sieht, wo die Probleme liegen, und die sich um die Sorgen der Menschen kümmert.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir müssen auch über die Qualität der Arbeitsplätze in der Industrie sprechen. Auch in der Industrie werden die Arbeitsverhältnisse schlechter. Das sogenannte Normalarbeitsverhältnis wird zurückgedrängt, insbesondere durch die Leiharbeit. Auch hier nimmt die Prekarisierung beängstigende Ausmaße an. Das merken nicht nur die Betroffenen, das merken vor allem auch die Sozialversicherungssysteme.
Wenn man Ihren Antrag liest, dann bekommt man den Eindruck, dass Sie den Arbeitsmarkt durch eine rosa-rote Brille oder nur aus der Sicht der Unternehmerverbände betrachten, dass sie eben nicht mit den jungen Menschen reden, die gerade versuchen, einen Einstieg in das Berufsleben zu finden, aber nur Angebote von Leiharbeitsfirmen erhalten.
Herr Pentz, denen muss Ihre Initiative, jetzt verstärkt qualifizierte Arbeitskräfte aus den südeuropäischen Krisenstaaten anzuwerben, wie ein Schlag ins Gesicht erscheinen.
In Spanien wird gerade die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten vorangetrieben, und das mündet in eine Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 50 %. Und dann laden Sie diese jungen, verzweifelten Menschen nach Deutschland ein: mit dem einzigen Ziel, dass die hier weiter die Löhne drücken.
(Manfred Pentz (CDU): Das ist Quatsch!)
Das ist eine Politik, die hat mit sozialer Gerechtigkeit wirklich nichts zu tun.
(Beifall bei der LINKEN)
Gleichzeitig ächzt in Deutschland das duale Ausbildungssystem, und die Hochschulen platzen aus allen Nähten. Statt aber das zu ändern, öffnen Sie der Wirtschaft das Tor zu den Bildungseinrichtungen, damit sie die Lehrpläne ausschließlich nach ihrem Bedarf gestalten kann. Genau darauf läuft doch Ihr ganzes „House of"-Konzept hinaus. Da werden Wissenschaftsdisziplinen passgenau für die Wirtschaft aus dem Boden gestampft. Das hat doch mit ganzheitlicher Bildung überhaupt nichts mehr zu tun.
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt komme ich zur sozialen Marktwirtschaft.
In Ihrem Antrag bemühen Sie einmal mehr Ludwig Ehrhard und die Konzepte der sozialen Marktwirtschaft. Schon heute Morgen haben wir mit unserem Antrag zum Ausdruck gebracht, dass wir der Losung Ludwig Erhards „Wohlstand für alle" einiges abgewinnen können. Wenn Sie aber die Gründungsväter der sozialen Marktwirtschaft immer wieder als Kronzeugen für Ihre Politik heranziehen, dann sollten Sie sich auch ein bisschen mehr mit deren Ideen auseinandersetzen. Denn deren Ideen haben herzlich wenig mit dem zu tun, was Sie hier politisch voranbringen.
Alfred Müller-Armack, den die „Wirtschaftswoche" als „geistigen Vater unserer Wirtschaftsordnung" bezeichnet hat, schrieb beispielsweise im Rückblick auf die Erfahrung mit marktwirtschaftlicher Politik, die sich nicht um Gerechtigkeit schere, dass es ein folgenschwerer Fehler des wirtschaftlichen Liberalismus gewesen sei, die marktwirtschaftliche Verteilung schon schlechthin als sozial und politisch befriedigend anzusehen. Von ihm stammt auch das Zitat – jetzt erschrecken Sie nicht, liebe Kollegen von der FDP –:
„Wenn auf dem Weg der Besteuerung die höheren Einkommen gekürzt und die einlaufenden Beträge, etwa in Form von direkten Kinderbeihilfen, Mietzuschüssen, Wohnungsbauzuschüssen, weitergeleitet werden, liegt geradezu der Idealfall eines marktwirtschaftlichen Eingriffs vor."
Die soziale Marktwirtschaft im Sinne Müller-Armacks kennt kein wie auch immer geartetes Primat der Ökonomie; Letzteres war für ihn Instrument und nicht Selbstzweck.
Deshalb sollte es auch nicht verwundern, dass sich Müller-Armack jegliche Hochstilisierung der Marktwirtschaft zum gesellschaftlichen Kult – wie Sie das gerne tun – verbittet. Ich darf ihn noch ein letztes Mal zitieren.
(Manfred Pentz (CDU): Das ist alles Ihr Wirtschaftssystem! – Gegenruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD))
– Ich verteidige doch gerade die soziale Marktwirtschaft gegen Sie. Ich weiß nicht, warum das in diesem Haus eigentlich ich tun muss. Ich würde das eher von Ihnen erwarten. Das ist traurig genug.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Judith Lannert (CDU))
Er sagt also über die soziale Marktwirtschaft:
„Sie ist ein überaus zweckmäßiges Organisationsmittel, aber auch nicht mehr. Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, der Automatik des Marktes die Aufgabe zuzumuten, eine letztgültige soziale Ordnung zu schaffen und die Notwendigkeiten des staatlichen und kulturellen Lebens von sich aus zu berücksichtigen."
Ich finde, das ist doch genau das Problem an Ihren Anträgen: dass Sie zwar die soziale Marktwirtschaft immer wie eine Monstranz vor sich hertragen, sie aber mit dem Inhalt Ihrer Politik überhaupt nichts zu tun hat. Wo ist denn die soziale Verantwortung in Ihrer Wirtschaftspolitik?
(Judith Lannert (CDU): Das ist Ihr Problem: Sie verstehen es nicht!)
Im Übrigen war Müller-Armack auch der Überzeugung, eine konstruktive Wettbewerbspolitik habe dafür zu sorgen, dass Machtballungen und risikolose Gewinne unterbunden werden; wenn sie trotzdem anfallen, dann sollten sie von Staat abgeschöpft werden.
(Zuruf des Ministers Florian Rentsch)
– Herr Rentsch, Sie sagen jetzt: „Na klar". – Dann frage ich Sie: Was unternimmt denn die FDP dazu, dass man vielleicht die Energiekonzerne zerschlägt? Wenn das keine Machtzusammenballung ist, dann weiß ich gar nicht, was eine Machtzusammenballung sein soll.
(Beifall bei der LINKEN)
Bei risikolosen Gewinnen ist es genau das Gleiche: Ich glaube, es war Walter Eucken, der den Satz gesagt hat: „Wer den Nutzen hat, der muss auch den Schaden tragen." Da geht es genau um die Frage des Risikos. Welches Risiko trägt denn die Deutsche Bank? Welches Risiko tragen denn die Kreditinstitute – wenn sie im Zweifelsfall immer gerettet werden. Sie können die Gewinne einstreichen, aber am Ende wird der Steuerzahler für die Verluste herangezogen.
Ich will Sie auch daran erinnern: Ludwig Erhards Regierungszeit war eine Zeit, in der der Sozialstaat ganz massiv ausgebaut wurde – das Gegenteil von dem, was Sie hier in den letzten Jahren und Jahrzehnten machen.
(Zuruf des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE) – Hermann Schaus (DIE LINKE): Da gab es ganz andere Wachstumsraten!)
– Da gab es andere Wachstumsraten, und vor allem gab es da andere Schulden. Auch das will ich einmal sagen. Die ganzen Staatsschulden, über die wir heute reden, dem Höchststand der Verschuldung ist doch nicht der Ausbau des Sozialstaats vorangegangen,
(Zuruf des Abg. Peter Seyffardt (CDU))
sondern ganz im Gegenteil der Abbau des Sozialstaats. Kein wirtschaftspolitisches Konzept hat so viele Schulden verursacht wie der Neoliberalismus, der Rückzug des Staates. In dieser Zeit sind diese großen Schulden entstanden, nicht aber zur Zeit des Ausbaus des Sozialstaats unter Ludwig Erhard.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Peter Seyffardt (CDU))
Ich bekenne mich nicht zur sozialen Marktwirtschaft,
(Peter Seyffardt (CDU): Aha!)
aber ich habe schon den Eindruck, dass man Ludwig Erhard und seine Gefährten aus der ordoliberalen Schule ein Stück weit verteidigen muss, damit die nicht von Ihnen völlig verunglimpft werden.
(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr gut! – Zuruf der Abg. Judith Lannert (CDU))
Ich bin der Meinung: Wenn Sie auch nur in Ansätzen das umsetzen würden, was die Väter der sozialen Marktwirtschaft wollten, dann wären wir schon ein ganzes Stück weiter. – Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)