Rede 1. Mai 2013 in Offenbach
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
als erstes möchte ich mich ganz herzlich für die Einladung bedanken, und dafür, dass ich – noch dazu als Frankfurterin – hier sprechen darf.
Ich bin sehr gerne zum 1. Mai nach Offenbach gekommen, auch weil Offenbach besonders negativ betroffen ist von der derzeitigen Landespolitik.
Arbeitsplatzabbau in der Industrie
In Offenbach zeigt sich, was passiert, wenn eine Landesregierung sich wegduckt, wenn es um den Erhalt von Arbeitsplätzen insbesondere in der Industrie geht. Tausende Arbeitsplätze sind in den letzten Jahren in Offenbach weggefallen, und die Landesregierung hat nichts dagegen getan.
Ich erinnere mich daran, wie Beschäftigte von MANRoland vor der Staatskanzlei für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze demonstriert haben und die Landesregierung sich nicht blicken ließ, obwohl es um 2.000 Arbeitsplätze ging. Die Landesregierung hat die Beschäftigten im Regen stehengelassen.
Kommunaler Schutzschirm
Offenbach musste unter den so genannten kommunalen Schutzschirm schlüpfen und soll jetzt sparen. Ich frage: Wo denn bitte? Offenbach hat doch nicht mal mehr ein Schwimmbad, das geschlossen werden könnte.
Der kommunale Schutzschirm bedeutet Sozialabbau. Der Finanzminister freut sich über ‚ungeahnte Einsparmöglichkeiten' in den Kommunen und meint damit Personalabbau und die Schließung von Bibliotheken und Jugendzentren, also die weitere Zerstörung der kommunalen Infrastruktur und den Ausverkauf kommunalen Eigentums. Der so genannte Schutzschirm ist ein Privatisierungs-Förderungsprogramm.
Ein handlungsfähiger Staat braucht höhere Einnahmen. Von allen Seiten an einem zu kurzen Tischtuch zu ziehen, hilft niemandem. Wer will, dass die Kommunen und auch die Schulen und Hochschulen mehr Geld bekommen, der muss die Vermögenssteuer endlich wieder erheben.
Privatisierungen bedeuten Demokratieabbau
Die Privatisierung der Daseinsvorsorge ist ein Fehler. Jede Privatisierung ist ein Abbau von Demokratie, weil dann nicht mehr in demokratisch gewählten Parlamenten darüber entschieden wird, sondern in fernen Konzernzentralen zugunsten der Aktionäre. Krankenhäuser dürfen nicht in die Hände von Aktiengesellschaften fallen, das sieht man bei den Unikliniken in Gießen und Marburg, und das gilt auch für das Klinikum in Offenbach, das gerade privatisiert wird.
Auch hier wäre das Land in der Pflicht gewesen, die Kliniken ausreichend zu finanzieren, und auch hier hat die Landesregierung falsch gehandelt.
Bezahlbaren Wohnraum schaffen
Offenbach braucht mehr bezahlbaren Wohnraum, die Umwandlung von Leerstand und mehr Sozialwohnungen.
Gerade im Rhein-Main-Gebiet sieht man, was passiert, wenn man den sozialen Wohnungsbau vernachlässigt und den Immobilienmarkt sich selbst überlässt. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum wird auch in Offenbach immer mehr zum Problem, auch weil viele Menschen, die sich die Mieten in Frankfurt nicht mehr leisten konnten, nach Offenbach gezogen sind.
Wohnungen sind ein Zuhause und kein Rendite- und Spekulationsobjekt.
Es ist ein großer Erfolg, dass es einem breiten Bündnis gelungen ist, den Verkauf der Nassauischen Heimstätte zu verhindern
Umfairteilen
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frankfurter Rundschau hat gestern eine Grafik veröffentlicht, wie lange Beschäftigte arbeiten müssten, um auf das durchschnittliche Jahresgehalt der Vorstandsvorsitzenden in DAX-Konzernen zu kommen, auf 5,1 Mio. Euro.
Ein Facharbeiter im Automobilbau müsste 88 Jahre arbeiten, ein Erzieher 113 Jahre, eine Pflegefachkraft 138 Jahre und ein Ungelernter im Lebensmitteleinzelhandel sogar 273 Jahre. Diese Ungerechtigkeit stinkt doch zum Himmel.
Es wird höchste Zeit, dass die Menschen, die den gesellschaftlichen Reichtum produzieren oder wichtige soziale Aufgaben erfüllen, angemessen am gesellschaftlichen Reichtum beteiligt werden.
Wenn 10 Prozent der Bevölkerung zwei Drittel des Vermögens besitzen und DAX-Vorstände das 300fache ihres Pförtners verdienen, dann ist es höchste Zeit, über Umverteilung nicht nur zu reden.
Deutschland wird immer reicher, die Zahl der Millionäre steigt. Die Reichtumsuhr dreht sich schneller als die Schuldenuhr, deshalb brauchen wir keine Schuldenbremse, sondern endlich eine andere Steuerpolitik.
Es kann auch nicht sein, dass diejenigen, die mit den dicksten Autos auf öffentlichen Straßen fahren und die in der öffentlich finanzierten Oper oder im Theater standardmäßig in der ersten Reihe sitzen, sich nicht an der Finanzierung öffentlicher Aufgaben beteiligen, sondern ihr Geld in Schweiz bringen.
Die Landesregierung erklärt immer wieder, dass es Hessen gut gehe. Da frage ich mich: Wer ist denn Hessen?
Ist das die entlassene Verkäuferin bei Schlecker, der Leiharbeiter bei Amazon oder Erwerbslose, die von ALG II leben müssen?
Auch im reichen Hessen wächst jedes fünfte Kind in Armut auf. Das ist doch eine Schande. Die FDP kann den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung fälschen, die Realität ändert sie dadurch nicht.
Gute Arbeit
Die Regierung freut sich darüber, dass die Erwerbslosenquote auf dem niedrigsten Stand seit 1992 ist, aber sie verschweigt, dass man die Statistiken von heute mit denen von 1992 überhaupt nicht vergleichen kann, denn viele Erwerbslose werden schlicht nicht mehr mitgerechnet.
Mittlerweile arbeiten 300.000 Menschen in Hessen im Niedriglohnsektor, das ist ein Fünftel aller Beschäftigten, bei Frauen sogar jede dritte.
Das sind Menschen, die Arbeit haben, aber davon nicht leben können. Menschen, die im Alter in Armut leben werden, weil sie sich private Vorsorge nicht leisten können. Und diese Menschen trifft die Rente ab 67 besonders hart. Eine Erzieherin kann nicht bis 67 arbeiten, Handwerker auch nicht. Die Rente ab 67 ist eine Rentenkürzung, und sie muss zurückgenommen werden.
Hartz-Gesetze
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Fall Amazon und der Umgang mit Leiharbeitern dort ist schockierend, aber er ist leider kein Einzelfall, sondern vielmehr die Spitze eines Eisbergs. Viele Unternehmen nutzen die Leiharbeit systematisch, um Tarifverträge zu unterlaufen und Lohndumping zu betreiben.
Und: Wer über Amazon spricht, darf über die Hartz-Gesetze nicht schweigen. Denn erst durch Hartz I wurde die Leiharbeit in Deutschland massiv ausgeweitet.
Die Deregulierung des Arbeitsmarktes durch Hartz I-IV hat eine Rutschbahn der Löhne in Gang gesetzt und die Gewerkschaften geschwächt. Deshalb ist die vollständige Rücknahme der Hartz-Gesetze nötig.
Der Niedriglohnsektor ist so stark gewachsen wie in keinem anderen Industrieland. Und die Ausbreitung der Niedriglöhne ist kein Kollateralschaden der Agenda 2010, sondern integraler Bestandteil. Deshalb sind 10 Jahre Agenda 2010 kein Grund zum Feiern, sondern ein Grund zum Schämen.
Tarifflucht muss bekämpft werden, und wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn. Mittlerweile fällt es selbst der FDP schwer, den Menschen, die für vier Euro die Stunde arbeiten, zu erklären, dass der Markt dieses Problem schon lösen werde.
Der Missbrauch von Werkverträgen muss verboten werden, und Hessen braucht endlich ein Tariftreue- und Vergabegesetz, damit Unternehmen, die Lohndumping betreiben, nicht noch durch öffentliche Aufträge belohnt werden.
Und wir brauchen ausreichend und gute Ausbildungsplätze. Wenn die Unternehmen ihrer Pflicht nicht nachkommen, Ausbildungsplätze zu schaffen, dann muss man sie gesetzlich dazu zwingen, ihrer Verantwortung nachzukommen.
Gute Arbeit bedeutet auch, dass wir endlich wieder über Arbeitszeitverkürzung und eine gerechte Verteilung von Arbeit sprechen müssen.
Krise
Die Frage der Krise wird auch in diesem Jahr eine entscheidende Rolle spielen.
Was der Bundestag unter dem Begriff „Rettungspakete" verabschiedet hat, ist in Wahrheit ein gigantisches Verarmungsprogramm. Und sie bereiten die nächste Runde des Sozialabbaus in Deutschland vor.
Um die realen Widersprüche zu verschleiern, werden Stimmungen geschürt gegen angeblich faule Griechen und frühverrentete Spanier.
Die Spaltung in Europa verläuft nicht entlang nationaler Grenzen, sondern zwischen Oben und Unten.
Die Rente ab 67 wird doch in Deutschland nicht dadurch besser, dass Spanien sie auch einführt. Im Gegenteil, diese Standortlogik setzt eine Abwärtsspirale nach unten in Gang, bei der es auf Seiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nur Verlierer gibt, weil wir dann demnächst über die Rente ab 70 reden werden.
Die so genannten Rettungspakete wirken wie Rettungsringe aus Blei. Sie retten nicht, sondern ziehen die Krisenländer nur weiter in die Tiefe.
Wer als Auflage für Griechenland erlässt, die Löhne um ein Viertel zu senken, die Renten zu kürzen, 150.000 Stellen im öffentlichen Dienst abzubauen, die öffentliche Infrastruktur zu verkaufen und 1,5 Milliarden Euro im Gesundheitssystem zu kürzen, der organisiert ganz bewusst eine soziale Katastrophe.
Gerade gestern wurde gemeldet, dass die Arbeitslosigkeit in der Eurozone ein neues Rekordniveau erreicht habe.
In Spanien gab es noch nie einen so hohen Anstieg der Arbeitslosigkeit binnen eines Jahres wie dieses Mal. In Griechenland ist sie in nur einem Jahr um fast 6 Prozent auf mit 27,2 Prozent angewachsen.
Besonders häufig sind junge Menschen ohne Beschäftigung: Fast jeder Vierte unter 25 Jahren ist in der Eurozone arbeitslos.
Besonders schäbig ist es, wenn versucht wird, die Misere dieser Menschen auszunutzen, und sie in Deutschland als Lohndrücker einzusetzen, damit sich die Unternehmen die Ausbildungskosten sparen.
Ich bin dafür, dass jeder Mensch dort arbeiten und leben kann, wo er möchte, aber das muss zu gleichen und fairen Bedingungen passieren und unter Einhaltung geltender Tarifverträge.
In den Krisenländern zeigt sich sehr deutlich, dass Sozialabbau und Demokratieabbau zwei Seiten einer Medaille sind.
Gewählte Regierungen und Parlamente werden entmachtet und durch Banker und Bürokraten ersetzt, die keinerlei demokratische Legitimation haben, sondern die Befehle der Troika aus IWF, EZB und EU-Kommission umsetzen.
Ein anderes Europa ist nötig
Wir brauchen ein Europa, in dem nicht Konkurrenz und Wettbewerb, sondern Solidarität und Demokratie die Grundpfeiler bilden.
Die Lehren aus der Krise müssen sein, dass man die Spielregeln ändern muss. Die Finanzmärkte müssen reguliert und riskante Finanzprodukte müssen verboten werden. Die Banken müssen auf ihre Kernaufgaben beschränkt werden, statt zu zocken. Perverse Auswüchse wie Spekulationen mit Nahrungsmitteln müssen verboten werden.
Es ist an der Zeit, über die Demokratisierung der Wirtschaft zu reden und darüber, wie man die Wirtschaft dem Gemeinwohl unterstellen kann, statt der Profitmaximierung.
Deshalb ist es dringend nötig, der EU ein Europa von unten entgegenzusetzen. Ein Europa ohne Frontex, das Menschen, die nach Europa flüchten, nicht im Mittelmeer ertrinken lässt.
Kein Platz für Nazis
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am morgigen 2. Mai jährt sich die Erstürmung der Gewerkschaftshäuser durch die Nazis zum 80. Mal. Der Faschismus war die größte Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung.
Die Lehre daraus muss sein, dass wir uns den Nazis überall dort entgegenstellen, wo sie aufmarschieren, gerade am 1. Mai. Denn der 1. Mai ist der Tag der Arbeiterbewegung.
Es ist nicht nur unser Recht, sondern auch unsere Pflicht als Demokraten, dass wir uns den Nazis entgegenstellen. Gerade angesichts der schrecklichen Mordserie des NSU, die gezeigt hat, dass auf die so genannten Sicherheitsbehörden keinerlei Verlass ist im Kampf gegen Rechts.
Nazis zu bekämpfen heißt auch, jeder Form des Rassismus den Kampf anzusagen.
Der 1. Mai ist der Tag der internationalen Solidarität.
Janine Wissler