Chemie- und Pharmaindustrie kritisch betrachten
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren!
Wir sprechen hier über einen Jubelantrag von Schwarz-Grün zum Chemie- und Pharmastandort Hessen, mit dem der Landtag feststellen soll, dass alles prima ist, und die Landesregierung gebeten wird, alles noch ein bisschen toller zu machen.
Für Hessen ist die chemische Industrie zweifelsohne von besonderer Bedeutung. Wir reden hier über 60.000 Arbeitsplätze und einen wichtigen Beitrag zur Wertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes in Hessen. Dass diese Branche erfolgreich ist, ist nun kein Verdienst der Landesregierung,
(Zuruf des Abg. Manfred Pentz (CDU))
sondern es ist in allererster Linie ein Verdienst der Beschäftigten, die einer harten Arbeit, und zwar sehr oft im Schichtdienst, nachgehen. Das erwähnen Sie in Ihrem Antrag überhaupt nicht. Sie loben sich als Landesregierung. Dabei sind es in erster Linie die Beschäftigten, die zu diesem Erfolg beitragen.
(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)
Ja, die Branche stellt viele wichtige und nützliche Produkte her. Hier werden zahlreiche Materialien und Baustoffe entwickelt, wie zur Energieerzeugung aus erneuerbaren Energien, Gebäudeisolierung und Verpackungen. Sicher werden viele nützliche Medikamente in der pharmazeutischen Industrie hergestellt. Aber ich muss schon sagen, ich bin über diese sehr unkritische Begeisterung der GRÜNEN für die Chemieindustrie doch etwas überrascht, denn hier geht es nicht nur um Gebäudeisolierung. Hier geht es auch um gefährliche Weichmacher z. B. in Babyfläschchen.
(Zuruf der Abg. Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Hier geht es um Fracking. Hier geht es um Tierversuche. Und hier geht es darum, dass es in der Chemieindustrie immer wieder zu Unfällen kommt, die schlimme Folgen für die Umwelt haben können.
Deshalb kann es nicht nur Aufgabe der Landespolitik und der Bundespolitik sein, diese Branche zu stärken und zu unterstützen, sondern es muss Aufgabe sein, sie auf den Schutz der Gesundheit und die Nachhaltigkeit zu verpflichten.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Peter Stephan (CDU))
In dem Antrag hätte ich mir auch das eine oder andere kritische Wort zum Thema Arbeitsplätze gewünscht. Sie schreiben in Ihrem Antrag, Sie wollten Arbeitsplätze in der Branche sichern. Ich will nur einmal darauf hinweisen, dass aktuell in der Pharmabranche in Hessen Arbeitsplätze abgebaut werden.
Das Chemieunternehmen Clariant will 700 Stellen in Deutschland abbauen. Bis Mitte 2013 wollte Stada Arzneimittel aus Bad Vilbel 800 Stellen abbauen bzw. ins billigere Ausland verlagern. Die Darmstädter Firma Merck setzt gerade ein umfassendes Kürzungsprogramm um, der jeder zehnte Arbeitsplatz zum Opfer fallen soll.
Vor einer Zeit waren Mitarbeiter des Schweizerischen Tochterunternehmens Merck Serono in Darmstadt, um gegen die komplette Schließung ihres Werks in Genf zu demonstrieren. Und bei Merck sollen im Rahmen des Sparprogramms „Fit für 2018“ 1.100 Stellen abgebaut werden. Mir ist nicht bekannt, was die Landesregierung bisher unternommen hat, um diese Arbeitsplätze zu sichern.
(Beifall bei der LINKEN)
Es ist ja nicht so, dass wir es hier mit einem notleidenden Unternehmen zu tun hätten – ganz im Gegenteil. Im vergangenen Jahr konnte Merck seinen Überschuss auf 1,2 Milliarden € verdoppeln und erzielte einen Rekordgewinn. Deshalb hat der Konzernchef Karl-Ludwig Kley den Aktionären auch eine erhöhte Dividende in Aussicht gestellt.
(Michael Boddenberg (CDU): Das ist ungeheuerlich, also so was!)
– Herr Boddenberg, ich halte das für ungeheuerlich. Ich halte es für ungeheuerlich, dass den Beschäftigten ein Kürzungsprogramm aufoktroyiert wird,
(Michael Boddenberg (CDU): Das ist ein Skandal! Sie sollten zu Ihrem Lieblingsthema kommen!)
dass die Stellenabbau hinnehmen müssen, während den Aktionären das dann wieder versilbert wird.
Ja, Herr Boddenberg, das halte ich für ungeheuerlich.
(Beifall bei der LINKEN)
Gerade wird eine milliardenschwere Übernahme eines US-Konzerns verkündet. Herr Boddenberg,
und diese Massenentlassungen sollen kein Unternehmen vor dem Ruin retten, sondern die Gewinnmarge vergolden. Ich vermisse den geringsten Hinweis in Ihrem Antrag, dass Sie diese Praxis ablehnen.
(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))
Wer über die Bedeutung von Arbeitsplätzen in der Industrie spricht, der darf nicht schweigen, wenn
Arbeitsplätze in der Industrie gefährdet und abgebaut werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Chemieindustrie ist ein wichtiger Arbeitgeber, und sie ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Aber es
sind ein paar kritische Worte nötig.
(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))
In der „Welt“ habe ich gerade ein Interview mit dem Merck-Chef Kley gelesen, der gleichzeitig der Präsident des Verbandes der chemischen Industrie ist. Die Überschrift des Interviews lautet: „Mich nervt diese verbohrte deutsche Nein-Haltung“. Damit ist offenkundig der Wunsch der Bevölkerung nach unbedenklichen Produkten und umweltfreundlichen Verfahren gemeint. Kley fordert in dem Interview, dass man Fracking in Deutschland zulassen soll. Er beklagte eine Stillstandskultur
in Deutschland. In seinem Buch „Deutschland braucht Chemie“ polemisiert er gegen die
Gegner von Fracking und gegen die Gegner der Gentechnik, insbesondere der sogenannten grünen
Gentechnik. Nun ist es auch so, dass die Chemiebranche bekannterweise eine sehr energieintensive
Industrie ist.
(Clemens Reif (CDU): Da müssen Sie doch drüberstehen!)
Herr Kley macht in dem Interview, wie ich finde, in bemerkenswerter Offenheit deutlich, wer seiner
Meinung nach die Kosten für die Energiewende tragen soll. Ich will das einmal zitieren. Es sei „absolut
richtig, dass die Privathaushalte … die Hauptlast der Anpassungskosten für die Energiewende zahlen.“
Die „Welt“ fragt kritisch nach: „Der Bürger hat es so gewollt, nun muss der Bürger auch bezahlen?“
– Kley: „So ist es.“
Das ist der Chef eines Konzerns, der gerade einen Rekordgewinn erzielt hat, der eine Dividendenerhöhung in Aussicht gestellt hat, und der erklärt, die privaten Haushalte sollen das zahlen, weil die Industrie das nicht bezahlen möchte.
So viel zum Präsidenten des Verbandes der chemischen Industrie: Das ist das Gesicht der deutschen Chemiebranche. Ich glaube, solche Äußerungen tragen auch dazu bei, dass die deutsche Chemiebranche eben nicht den besten Ruf in Deutschland hat, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)
Auch die Pharmaindustrie stellt sicher viele wichtige und nützliche Produkte her; das ist unbestritten.
Die Pharmaindustrie besteht nicht aus selbstlosen Akteuren, bei der die Heilung von Menschen an
erster Stelle steht, sondern sie besteht aus Aktiengesellschaften, die profitorientiert sind, und das ist
im Gesundheitsbereich besonders heikel.
Nur 10 % der Forschungsaufwendungen der Pharmaunternehmen fließen in 90 % der globalen Gesundheitsprobleme. Die Behandlung von Wohlstandskrankheiten und weitgehend nutzlose Nahrungsergänzungsmittel sind Umsatzbringer. Hier wird viel geforscht und entwickelt und viel Aufwand in teure Scheininnovationen gesteckt. Das ganze Elend – der Kollege Lenders hat es eben angesprochen – zeigt sich aktuell in der Ebola-Epidemie auf dem afrikanischen Kontinent, die schlimme Ausmaße annimmt, aber in den reichen Staaten nicht existiert und damit kaum renditeträchtig ist.
Es lohnt sich also schlicht für die Pharmakonzerne nicht. Ich finde, die Ebola-Epidemie zeigt in erschreckender Weise, was passiert, wenn man alles dem Markt überlässt. Wenn man sich überlegt,
wie viele Menschen gerettet werden können, wenn man viel schneller die Entwicklung der Medikamente vorangebracht hätte, dann ist die Ausbreitung von Ebola in Afrika auch ein Armutszeugnis für die weltweite Pharmaindustrie.
(Beifall bei der LINKEN)
Weltweit wird gerade an 183 neuen Medikamenten gegen die in den Industrieländern verbreiteten koronaren Herzerkrankungen gearbeitet.
(Clemens Reif (CDU): Das ist weit hergeholt!)
Gegen die in den Entwicklungsländern verbreitete Malaria sind gerade einmal 17 Medikamente in der Pipeline. An einem Ebola-Impfstoff wird nur in einer Firma in der Schweiz gearbeitet; er ist noch in einer sehr frühen Phase. Es ist völlig unklar, wann er überhaupt je auf den Markt kommen wird.
Kurzum: Nur 1 % der in den letzten zehn Jahren neu zugelassenen Medikamente zielt genau auf die sogenannten vernachlässigten Infektionskrankheiten, die gerade in den armen Weltregionen wüten.
Dafür treiben wissenschaftlich zum Teil sehr fragwürdige Präparate Blüten. Manchmal schaden Medikamente mehr als sie nutzen. Sie werden mit Millionenaufwand beworben. Wir wissen mittlerweile, dass neue Krankheitsbilder sogar erfunden werden, um Medikamente abzusetzen.
Ich empfehle Ihnen ein sehr gutes Buch des Wissenschaftsjournalisten Jörg Blech. Er hat das Buch „Die Krankheitserfinder“ geschrieben. Darin legt er sehr gut dar, dass die pharmazeutische Industrie eben nicht nur Medikamente entwickelt, sondern die Krankheitsbilder, die damit behandelt werden, gleich mit – gerade im Bereich der Psychopharmaka. Es ist es sehr interessantes Buch. Das lege ich Ihnen sehr ans Herz.
(Peter Stephan (CDU): Die haben auch Ebola erfunden?)
Unter diesen Umständen ist auch zu bewerten, inwieweit es gesellschaftlich verantwortlich ist, die Medizinforschung allein der Privatwirtschaft zu überlassen. Es ist wichtig, dass es unabhängige Forschung gibt, insbesondere an den Hochschulen, die frei von Profitinteressen und wirtschaftlichen Erwägungen sein müssen.
In Hessen haben wir eine sehr starke Vermischung, gerade durch die Drittmittelabhängigkeit der Hochschulen und das Sponsoring ganzer Lehrstühle als wären sie ein Stadion. Ich finde auch die im Antrag gelobte Industrieinitiativen „Netzwerke Cluster“ sind oft Wirtschaftsverbände mit Hochschulanschluss.
Deswegen sehen wir die ganze „House of …“-Strategie sehr kritisch, auch weil wir kritisch sehen, mit wem da zusammengearbeitet wird. Wenn ein Unternehmen wie Sanofi immer wieder in die Kritik gerät, unter anderem wegen Indikationshopping, dass nämlich Medikamente vom Markt genommen werden, nur um den gleichen Wirkstoff mit neuem Namen wieder für ein anderes Krankheitsbild zu einem deutlich höheren Preis anzubieten, dann sind wir der Meinung: Das Land muss genau hinschauen, mit wem man zusammenarbeitet, welchen Cluster man fördert. Es gibt hier eine Verantwortung, die das Land Hessen wahrnehmen muss, eben auch die ökonomische und soziale Integrität von Unternehmen zu prüfen.
Vizepräsidentin Heike Habermann:
Frau Kollegin Wissler, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Janine Wissler (DIE LINKE):
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Ich hätte jetzt gern noch etwas dazu gesagt, dass man generell den Einfluss der Pharmaindustrie in
der Gesundheitspolitik zurückdrängen muss. Das ist der eigentliche Kostentreiber im Gesundheitssystem. Es ist ein Problem, wenn Milliarden Euro aus den Sozialversicherungen quasi in die Taschen der Konzerne fließen.
Zu Ihrem Antrag: Er beinhaltet eine unkritische Lobhudelei hinsichtlich der Landesregierung und der Chemie- und Pharmaindustrie. Der Antrag ist völlig substanzlos. Deswegen werden wir ihm auch nicht zustimmen. Er nützt, vielleicht mit Ausnahme der Papierindustrie, niemandem. – Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)