Zur bisher mangelnden Aufklärung der NSU-Mordserie

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Gestern war der 100. Tag im NSU-Prozess. Auch in den Untersuchungsausschüssen des Bundestages sowie in einigen Landtagen sind immer wieder neue Fragen aufgeworfen worden zum Agieren der Behörden, des Verfassungsschutzes und auch der politisch Verantwortlichen in Hessen. Das sind Fragen, die dringend geklärt werden müssen. Beispielsweise: Wie kann es sein, dass ein ehemaliger Innenminister und heutiger Ministerpräsident Bouffier Mordermittlungen behindert hat, um einen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes zu schützen?

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Unglaublich! – Judith Lannert (CDU): Das ist mehr als unglaublich!)

Gab es eine Behinderung von Polizeiarbeit durch den Verfassungsschutz? Und die Frage: Wie kann es bitte sein, dass ein Neonazi, der als V-Mann tätig war und im NSU-Prozess in München aussagen soll, in dem es um die Aufklärung von zehn Morden geht, nur eine eingeschränkte Aussagegenehmigung vom Verfassungsschutz hat und ihm zudem ein vom Verfassungsschutz bezahlter Rechtsanwalt an die Seite gesetzt wird, der aufpasst, dass dieser Neonazi nicht mehr aussagt, als er darf? Es geht hier um die Aufklärung von zehn Morden, und wir wollen wissen, warum diese behindert wird, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD – Holger Bellino (CDU): Hier wird überhaupt nichts behindert! Eine Unverschämtheit ist das! Was Sie hier machen, wird dem Thema überhaupt nicht gerecht! – Weitere Zurufe von der CDU – Widerspruch bei der SPD und der LINKEN)

– Herr Bellino, wenn nichts behindert wird und es nichts zu verstecken gibt,

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

dann brauchen Sie einen Untersuchungsausschuss nicht zu fürchten.

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Ich frage Sie: Wer wird hier eigentlich geschützt? – Ich sage Ihnen: Der Rechtsstaat ist es nicht, wenn man V-Leute nicht vollumfassend vor dem NSU-Prozess aussagen lässt. Das ist ein Gericht, das die Aufgabe hat, zehn Morde aufzuklären, Herr Bellino. Und dieser V-Mann darf dort nicht sein gesamtes Wissen auspacken und sagen, was er weiß?

(Holger Bellino (CDU): Was verstehen Sie denn vom Verfassungsschutz? Unerhört ist das! – Gegenruf des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE): Das finden wir auch!)

Meine Damen und Herren, die Opfer des NSU und ihre Angehörigen – der Kollege Schäfer-Gümbel hat bereits darauf hingewiesen – wurden zweifach Opfer: erst durch die Tat und dann durch die falschen Verdächtigungen und Diffamierungen seitens der Ermittlungsbehörden. Statt Hinweisen auf ein rassistisches Motiv nachzugehen – solche Hinweise gab es sehr früh –, wurden die Opfer stigmatisiert und verdächtigt. Der drastischste Fall, von dem ich gehört habe – und ich muss echt sagen, dass es einen wirklich berührt –, ist, dass man einer trauernden Witwe, die gerade ihren Mann verloren hat, erzählt hat, ihr Mann hätte sie jahrelang betrogen und hätte eine zweite Familie, wobei dies vollkommen gelogen war. – Man hat es dieser trauernden Witwe in der Hoffnung erzählt, dass, wenn man ihren Mann schlechtmacht, sie Belastendes über ihren Mann mitteilen würde, was darauf schließen ließe, dass er im kriminellen Milieu tätig war. Da frage ich Sie: Was sind das für Ermittlungsbehörden, die eine trauernde Witwe einer solchen Situation aussetzen und solche Ermittlungsmethoden anwenden?

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wir können die Angehörigen nur um Entschuldigung bitten. Wir können vor allem eines tun, nämlich umfassend aufklären, und wir müssen Schlussfolgerungen ziehen. Diese Morde müssen aufgeklärt werden, die Rolle der Ermittlungsbehörden, der Geheimdienste und der politisch Verantwortlichen sowieso. Ich sage aber auch: Wir müssen Schluss machen mit dem V-Leute-System. Der Staat muss aufhören, Nazis dafür zu bezahlen, dass sie Nazis sind. Gestern ist im NSU-Prozess einmal mehr praktisch klar geworden, dass genau dieses Geld, das der Staat V-Leuten gegeben hat, jahrelang in den Aufbau von Nazistrukturen geflossen ist. Das zeigt, dass der Verfassungsschutz ein Teil des Problems ist und leider nicht Teil der Lösung.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine ganz wichtige Konsequenz, die wir ziehen müssen, ist, dass wir alle Formen des Rassismus konsequent bekämpfen müssen, um den Nährboden auszutrocknen, auf dem solche Neonazinetzwerke sich aufbauen und agieren können. Wir sind der Meinung, wir brauchen einen Untersuchungsausschuss. Deswegen haben wir einen Brief an alle Fraktionen geschrieben, weil wir der Meinung sind, es wäre gut, wenn der Hessische Landtag parteiübergreifend ein Zeichen setzt. Das war im Bundestag möglich. Dort wurde parteiübergreifend ein Untersuchungsausschuss eingesetzt. Das war ein gutes und wichtiges Zeichen. Wir würden uns wünschen, dass wir auch in Hessen, wo ein Mord geschehen ist, dahin kämen.

Eine Regierungskommission, die von der Regierung eingesetzt ist und dann das Regierungshandeln kritisieren soll, ist an der Stelle völlig deplatziert. Wir befürchten, dass auch ein Sonderausschuss nichts hilft, weil das die Verantwortlichen nicht verpflichtet, zu erscheinen und wahrheitsgemäß auszusagen. Ich befürchte auch, dass das Ministerium die Akten freiwillig nicht herausrücken wird. Das könnten sie, Frau Faeser, da haben Sie recht. Aber sie werden es nicht tun. Ich glaube, das hat die Debatte klar gezeigt.

Deswegen sagen wir: Wir müssen sie dazu zwingen. Wir wollen einen Untersuchungsausschuss, der es dem Ministerpräsidenten nicht mehr ermöglicht, sich immer weiter wegzuducken, sodass er endlich aussagen muss. Es ist doch ganz klar – –

Vizepräsident Frank Lortz: Frau Kollegin Wissler, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen.

Janine Wissler (DIE LINKE): Ich komme zum Schluss. – Der Untersuchungsausschuss im Bund hatte nie die Aufgabe, die konkreten Vorkommnisse in den Ländern zu untersuchen. Das konnte er überhaupt nicht leisten. Das hat der Untersuchungsausschuss des Bundestages auch immer wieder klargemacht. Das ist eine Aufgabe der Länder. Das ist die Verantwortung des Hessischen Landtags, und das sind wir den Angehörigen der Opfer schuldig. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD)