Janine Wissler - Die Schuldenbremse war von Anfang an Murks und muss fallen
In seiner 45. Plenarsitzung am 24. Juni 2020 diskutierte der Hessische Landtag in zweiter Lesung über das Corona-Hilfspaket der Landesregierung. Dazu die Rede unserer Fraktionsvorsitzenden Janine Wissler.
Herr Präsident, meine Damen und Herren!
Die CoronaPandemie hat verheerende Auswirkungen – gesundheitlich, sozial, wirtschaftlich. Wir erleben in diesen Tagen den tiefsten wirtschaftlichen Einbruch seit dem Zweiten Weltkrieg. Millionen Menschen fürchten um ihre Existenz. Alleine in Hessen haben 52.000 Betriebe Kurzarbeit angemeldet. Kurzarbeit bedeutet für Menschen massive Einkommensverluste. Für viele Menschen, die auch vorher nicht viel Geld verdient haben, die von 60 % oder die von 67 % Kurzarbeitergeld über Monate leben müssen, bedeutet das eine massive Einschränkung.
Viele Minijobberinnen und Minijobber haben ihre Arbeit verloren – gerade in der Gastronomie. Es gibt Kulturschaffende, die um ihre Existenz besorgt sind. Natürlich denken wir auch an die bundesweit 8.000 Beschäftigten bei Galeria Kaufhof und Karstadt, die gerade um ihre Arbeitsplätze bangen. Ihnen gilt unsere Solidarität, meine Damen und Herren.
(Beifall DIE LINKE und SPD)
Wir denken auch an die 22.000 Beschäftigten bei der Lufthansa und die 1.000 Beschäftigten bei Condor, die ebenfalls um ihre Arbeitsplätze bangen. Ich finde, an der Stelle wird einmal mehr sehr deutlich: Es darf keine öffentlichen Mittel ohne öffentliche Mitsprache und vor allem ohne eine Garantie der Arbeitsplätze geben.
(Beifall DIE LINKE)
Die Bundesregierung hatte es in der Hand, zu sagen: Wir retten die Lufthansa. – Das Land Hessen hätte sagen können: Wir retten Condor. Aber dafür müssen die Arbeitsplätze erhalten werden. – Diese Möglichkeit hatte man, aber man hat die Beschäftigten im Regen stehen lassen,
(Torsten Warnecke (SPD): Nein, nein, nein!) und völlig zu Recht fühlen sie sich im Stich gelassen, weil die Lufthansa mit mehreren Milliarden Euro gerettet wird, aber ihre Arbeitsplätze offensichtlich zweitrangig sind, meine Damen und Herren.
(Beifall DIE LINKE)
In dieser Krise zeigen sich Probleme, die über viele Jahre vorher schon bestanden haben, die auch nicht neu sind, sondern jahrelang ignoriert wurden. Wie lange diskutieren wir schon den Pflegenotstand? Wie lange schon haben die Pflegekräfte darauf aufmerksam gemacht, dass sie völlig unterbesetzt und überbelastet sind, dass sie Personalmindeststandards brauchen und die Ökonomisierung des Gesundheitssystems ein riesiges Problem ist?
Der marode Zustand in den Schulen führt dazu, dass wir jetzt feststellen: Ups, es gibt gar keine Waschbecken. Da kann man gar keine Hygienemaßnahmen umsetzen. – Wie lange ist dieser Zustand bekannt?
Wir haben einen Mangel an Erzieherinnen und Erziehern, aber das hat nicht dazu geführt, dass die Arbeitsplätze, die Arbeitsbedingungen und die Anerkennung besser wurden.
Meine Damen und Herren, was ist denn mit den Schlachthöfen? Seit wie vielen Jahren macht die Gewerkschaft NGG darauf aufmerksam, welche dramatischen Bedingungen in den Schlachthöfen herrschen? Seit Jahren warnt die NGG davor, dass es Lohndumping gibt, Verträge an Subunternehmen weitergegeben wurden, dass es Werkverträge gibt. Hätte man das früher reguliert, dann hätte man so eine beschissene Situation in den Betrieben nicht gehabt. Dann hätte man soziale und gesundheitliche Sicherheit für viele Beschäftigten in der – –
Vizepräsident Frank Lortz:
Frau Kollegin Wissler, den Begriff „beschissene“ lasse ich gelten, weil es um Schlachthöfe geht, ansonsten sollten wir das doch ein bisschen vernünftig machen.
(Heiterkeit – Stephan Grüger (SPD): Bescheiden! – Saadet Sönmez (DIE LINKE): „Beschissen“ ist gut! – Zuruf: Das müssen Sie jetzt zurückweisen!)
Janine Wissler (DIE LINKE):
Gut, ich hatte kurz überlegt, vom Schweinesystem zu sprechen, Herr Präsident, aber ich mache das dann lieber nicht.
(Heiterkeit)
Aber bei der Situation in den Schlachthöfen muss doch endlich etwas passieren. Das muss doch reguliert und die Beschäftigten müssen geschützt werden. Gerade diese Ausbrüche zeigen doch, wie dramatisch die Bedingungen sind, meine Damen und Herren.
(Beifall DIE LINKE)
In dieser Krise sind die sozialen Unterschiede doch noch deutlicher geworden. Natürlich ist es ein Unterschied, ob, wenn man zu Hause bleibt, das in einem Einfamilienhaus mit Garten oder in einer beengten Stadtwohnung ist. Natürlich hat sich das bei den Einkommenseinbußen gezeigt. Natürlich hat sich das bei ganz vielen Fragen gezeigt.
Deswegen will ich auch noch einmal an die Menschen erinnern, die überall beklatscht und gelobt wurden und die jetzt – so ist mein Eindruck – langsam wieder ziemlich in Vergessenheit geraten, nämlich die Pflegekräfte in den Altenpflegeeinrichtungen, aber auch das medizinische Personal in den Krankenhäusern, die Beschäftigten im Lebensmitteleinzelhandel, die Paketboten, die Lkw- und Busfahrer, die Beschäftigten in den Gesundheitsämtern und die Eltern, die über Wochen hinweg den Ausfall von Kinderbetreuung und Schulen kompensiert haben.
Die alle haben Applaus bekommen. Die alle haben Lob bekommen. Bei all denen gilt aber: Applaus bezahlt keine Rechnungen oder die Miete. – Es ist dringend notwendig, dass gerade diese Menschen, die oftmals als Niedrigqualifzierte abgetan wurden und viel zu wenig Geld verdient haben, endlich aufgewertet werden, meine Damen und Herren.
(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)
Aber das Gegenteil ist doch gerade der Fall. Ver.di musste erst mit Klage drohen, damit die Sonntagsöffnung wieder zurückgenommen wird.
(René Rock (Freie Demokraten): Dank der SPD! – Hermann Schaus (DIE LINKE): Ja!)
Ist das Dankbarkeit gegenüber den Beschäftigten? Wird aus lauter Dankbarkeit für die Arbeit im Einzelhandel in der CDU darüber fabuliert, dass man den Mindestlohn senken könne, in dem Wissen, dass es genau die Beschäftigten trifft, denen es sowieso schon nicht gut geht?
(Beifall DIE LINKE und SPD)
Deswegen lassen Sie uns diese Menschen nicht vergessen, auch wenn sie nicht mehr täglich gelobt und beklatscht werden. Davon haben sie ohnehin relativ wenig. Wir brauchen gute Arbeit.
Deshalb ist grundsätzlich richtig, dass jetzt investiert wird. Natürlich muss jetzt investiert werden. Gerettet werden darf doch aber nicht einfach nur der, der die größte Lobby hat, am lautesten schreit und mit Arbeitsplatzabbau droht. Entscheidend ist doch, dass die Menschen gerettet werden, die gerade in eine soziale Schieflage geraten.
Mit dem Konjunkturpaket der Großen Koalition wird zwar viel Geld in die Hand genommen, aber es gehen viele Menschen leer aus. Es ist unklar, ob die Mehrwertsteuersenkung weiter bestehen bleibt. Es gibt keinen Aufschlag für Hartz-IV-Betroffene und Rentner in Grundsicherung. Es gibt keinen dauerhaften Bonus für die Pflegekräfte, und es gibt kein nachhaltiges Investitionsprogramm.
Jetzt will das Land das Sondervermögen in Höhe von 12 Milliarden € auflegen. Ich will die Summe noch einmal nennen: 12 Milliarden €. Als wir LINKE in den letzten Jahren in Haushaltsberatungen den Vorschlag gemacht haben, die bescheidene Summe von 1,5 Milliarden € mehr ausgeben zu wollen
(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Jährlich! – Weitere Zurufe: Jährlich!)
– ja, das ist trotzdem eine relativ bescheidene Summe angesichts dessen, was Sie jetzt ausgeben wollen –,
(Zuruf Torsten Warnecke (SPD))
wurden wir für verrückt erklärt. Jetzt wollen Sie 12 Milliarden € ausgeben, die Sie nicht einmal in den Haushalt schreiben. 12 Milliarden € steckt die Landesregierung in Form von Kreditermächtigungen in ein Sondervermögen, und davon sollen nicht nur in diesem Jahr Maßnahmen finanziert werden, nein, Sie wollen sich bis Ende der Legislaturperiode im Jahr 2023 aus diesem Sondervermögen bedienen.
Ja, wir stimmen jetzt zu; denn wir sind auch nicht der Meinung, dass man derzeit im laufenden Haushalt kürzen kann – wo denn? Natürlich müssen wir Kredite aufnehmen, und natürlich brauchen wir jetzt große Investitionsprogramme und Soforthilfen.
Es ist schon auf gewisse Weise komisch, dass die Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen, die Verfechterinnen der schwarzen Null, der Schuldentilgung und der Schuldenbremse, jetzt ihre eigene Regelung umgehen möchten. Sie haben diese Regelung doch selbst geschaffen. Sie haben diese unsägliche Schuldenbremse in die Verfassung geschrieben und dann noch ein sehr schlechtes Ausführungsgesetz verabschiedet, in dem Sie festgelegt haben, dass es eine Zweidrittelmehrheit geben muss, die der Aussetzung der Schuldenbremse zustimmt, und dass das dann innerhalb von sieben Jahren getilgt werden muss, was finanzpolitisch jetzt nicht gerade Kompetenz atmet.
Das haben Sie ins Ausführungsgesetz hineingeschrieben, und jetzt, bei der ersten – zugegeben schweren – Krise merken Sie, dass diese ganze Schuldenbremsenarchitektur überhaupt nicht funktioniert. Deshalb wäre doch das Eingeständnis nur konsequent, dass die Schuldenbremse gescheitert ist, weil sie den öffentlichen Haushalten Fesseln anlegt und weil sie es nicht ermöglicht, in der Krise zu reagieren und Investitionsprogramme aufzulegen.
(Beifall DIE LINKE)
Sie sagen jetzt: Wir wollen die Schuldenbremse abschwächen, die Zweidrittelmehrheit soll auf eine einfache Mehrheit reduziert werden, die Tilgungsfrist von sieben Jahren soll aufgehoben werden. – Die Schuldenbremse abzuschaffen, ist nicht falsch. Wir können begrüßen, dass die Aussetzung der Schuldenbremse erleichtert wird. Aber noch einmal: Konsequent wäre, sie komplett abzuschaffen.
In dieser Krise zeigt sich, dass es total blöd ist, wenn die Ideologie mit der Realität kollidiert.
(Zuruf: Jawohl!)
Wenn die Ideologie „schwarze Null“ und „Generationengerechtigkeit“ lautete – mich hat das Argument noch nie überzeugt, dass es für die nachkommenden Generationen besonders gerecht sein soll, dass wir ihnen eine marode Infrastruktur vererben –, so merken Sie jetzt in der ersten Krise, dass das ganze Gerede von schwarzer Null völlig perdu ist und man diese von Ihnen selbst eingeführte Regelung überhaupt nicht mehr einhalten kann.
Deshalb ist die Schuldenbremse mit der Realität nicht vereinbar. Sie erschwert entschlossenes Handeln in der Krise. Wir sollten uns ihrer daher entledigen – am besten auf Bundes- und auf Landesebene.
(Beifall DIE LINKE)
Jetzt wollen Sie sich durch Ihr Vorgehen weitgehend freie Hand verschaffen. Das hatten wir beim ersten Nachtragshaushalt auch. Damals haben wir auch angemahnt, dass die Spielräume nicht als Blankoscheck verstanden werden dürfen. Auch darum geht es natürlich jetzt und heute. Grundsätzlich bleibt es richtig, dass der Staat und auch Hessen große Summen in die Hand nehmen, um die mittelbaren und unmittelbaren Folgen der Pandemie zu bekämpfen. In Zeiten, in denen Steuereinnahmen dramatisch einbrechen, muss dieses Geld – woher auch sonst? – natürlich auch aus Krediten kommen.
Ich bin der Meinung, dass Sie sich nicht ganz so dafür feiern müssen. Gelegentlich muss man daran erinnern, dass diese 12 Milliarden € nicht aus der Schatulle von CDU und GRÜNEN kommen, sondern dass das das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ist. Hier wird über die Verwendung öffentlicher Gelder bestimmt. Deshalb sollten Sie sich ein bisschen weniger selbst feiern und ein bisschen weniger so tun, als wäre das Ihr eigenes Geld. Das täte der Debatte gut.
(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)
Wir haben einen umfangreichen Änderungsantrag zum Sondervermögen formuliert. Wir wollen mehr Geld für Bildung. Wir wollen Investitionen in die Kommunen. Wir wollen einen gut ausgebauten und bezahlbaren ÖPNV im ganzen Land. Wir wollen bezahlbare Wohnungen. Wir wollen eine Gesundheitsversorgung in öffentlicher Hand und gut ausgestattete Schulen.
Mit unserem Änderungsantrag zeigen wir einen Weg auf, wie man das Sondervermögen einer ordentlichen demokratischen Kontrolle durch den Landtag zugänglich machen könnte. Wir wollen nicht nur, dass der Haushaltsausschuss über die Verwendung von Mitteln ab einer Höhe von 1 Million € entscheiden muss, sondern auch, dass die Möglichkeit besteht, jeden einzelnen Fall der Entnahme von Mitteln aus den Sondervermögen im Plenum zu behandeln.
(Beifall DIE LINKE – Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch schon
geregelt!)
Das ist ein Verfahren, das es ohnehin schon gibt. Ich finde, das ist mehr als notwendig.
(Beifall DIE LINKE)
Die Pläne der Landesregierung werden den Anforderungen weder quantitativ noch qualitativ gerecht. Die Summen reichen nicht aus. Die versprochene sozial-ökologische Erneuerung lässt sich so nicht umsetzen.
Die Debatte zeigt doch das Eingeständnis, dass der Kommunale Finanzausgleich in der Krise nicht funktioniert, um eine ausreichende Finanzierung für die Kommunen sicherzustellen. Die 2,5 Milliarden €, die in das Sondervermögen eingestellt sind, werden nicht ausreichen, um die Verluste der Kommunen bei den Steuereinnahmen auszugleichen. Diese belaufen sich laut Steuerschätzung bis 2023 auf 3,5 Milliarden €. Von den pandemiebedingten Mehrausgaben in den Kommunen ist dabei noch gar keine Rede. Das heißt, das ist definitiv zu wenig.
Die entscheidende Frage ist, wer am Ende für diese Krise zahlt. Diese Krise darf nicht dazu führen, dass sich die Einkommensverhältnisse und die Vermögensverhältnisse in diesem Land noch stärker in die Richtung entwickeln, dass die einen immer mehr und die anderen immer weniger haben.
Deshalb haben wir den Vorschlag in Form eines Antrags eingebracht, nach Art. 106 des Grundgesetzes eine einmalige Vermögensabgabe zu erheben, um die Kosten der Corona-Krise und die Finanzierung des notwenigen Neustarts zu sichern. Diese Vermögensabgabe hat das Lastenausgleichsgesetz aus den Fünfzigerjahren zum Vorbild, das auf eine Idee der CDU zurückgeht. Ich finde, wenn wir heute davon reden, dass das die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg ist, dann müssen wir auch über solche Maßnahmen sprechen.
(Beifall DIE LINKE)
Auch das wird nicht ausreichen. Natürlich müssen wir auch über die Besteuerung von Vermögen sprechen. Wir brauchen eine andere Steuerpolitik. Wer das nicht will, der muss die Frage beantworten, wer das eigentlich bezahlen soll. Eine dauerhafte Kreditfinanzierung stand bisher nicht zur Disposition. Wer soll das also bezahlen? Wenn das nicht die Leute bezahlen, die über sehr viel Vermögen verfügen, dann bedeutet das im Umkehrschluss, dass das die bezahlen, die deutlich weniger Vermögen haben. Das muss man dann aber auch so sagen.
Diese Krise muss auch dafür genutzt werden, endlich Steuergerechtigkeit herzustellen. Das darf nicht abgewälzt werden auf die Menschen, die ohnehin nur über einen verschwindend geringen Teil des Vermögens in diesem Land verfügen.
(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)
Ich komme zum Schluss. Wir werden uns in diesen Debatten von einem leiten lassen, und zwar von der Frage, welche Auswirkungen die Beschlüsse, die in diesem Haus gefasst werden, auf die Lebenssituation der Menschen in diesem Land haben. Es ist richtig, dass Kulturschaffende, Jugendherbergen, Pflegekräfte, Frauenhäuser usw. Hilfe brauchen. Es ist sinnvoll, dass Hessen-Forst mehr Geld bekommt. Wir werden uns all diese Maßnahmen anschauen. Wir haben einen Änderungsantrag gestellt.
Wir sind an diesem Verfahren nicht beteiligt worden. Das war unter Ihrem Vorgänger anders gewesen. Wir wurden nicht informiert. Vielmehr haben wir vom Sondervermögen aus der Presse erfahren.
Trotzdem werden wir uns das genau anschauen. Unser Abstimmungsverhalten im Landtag muss sich immer daran messen lassen, ob das eine Verbesserung für die Menschen im Land bedeutet. Wir werden Änderungsvorschläge machen. Eines ist ganz sicher: Auch wenn einige richtige Sachen darin stehen, ist das nicht der große Wurf, um die Gesellschaft nach der Krise sozialer, gerechter und ökologischer zu machen. – Vielen Dank.
(Beifall DIE LINKE)