Konzepte der Verkehrswende beraten - aber gleichzeitig das Tempo beschleunigen
In seiner 58. Plenarsitzung am 11. November 2020 diskutierte der Hessische Landtag über die Einführung einer Enquete-Kommission "Verkehr", in der die Zukunft der Mobilität in Hessen diskutiert werden soll. Dazu die Rede unserer verkehrspolitischen Sprecherin und Fraktionsvorsitzenden Janine Wissler.
Herr Präsident, meine Damen und Herren!
SPD und FDP wollen eine Enquetekommission einsetzen und mit Wissenschaft und Wirtschaft beraten, wie die Mobilität der Zukunft in Hessen aussehen könnte. Die Analyse im vorliegenden Einsetzungsantrag ist dabei im Großen und Ganzen nicht falsch. Das betone ich vorweg deshalb, weil beide Parteien verkehrspolitisch nicht immer die Speerspitze des verkehrspolitischen Fortschritts sind – um es einmal ganz vorsichtig zu sagen.
(Beifall DIE LINKE – Zuruf Tobias Eckert (SPD): Das ist aber gemein!)
Die FDP kämpft gegen ein generelles Tempolimit auf Autobahnen und stand in Wiesbaden jüngst an der Spitze derer, die den dringend notwendigen Straßenbahnbau mit fragwürdigen Argumenten torpedierten;
(Zuruf Freie Demokraten)
man könnte auch sagen: mit Fake News. Dass ausgerechnet die Freien Demokraten, für die eine Straßenbahn offensichtlich schon eine Überforderung in Sachen Innovation ist, eine Enquetekommission zur Mobilität der Zukunft fordern, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
(Beifall DIE LINKE)
Bei manchen SPD-Abgeordneten haben wir das Gefühl, sie würden die Bäume im Dannenröder Forst am liebsten eigenhändig rausrupfen und sich selbst auf die Bagger setzen, damit an dieser Stelle eine Autobahn betoniert werden kann.
(Beifall DIE LINKE – Zuruf SPD)
„Fridays for Future“ geht auf die Straße; wir diskutieren über Klimaerwärmung und -schutz, aber gleichzeitig baut das grün regierte Hessen den Frankfurter Flughafen aus und rodet den Dannenröder Forst für neue Autobahnen – was für ein Irrsinn. Folgerichtig landet Hessen im Länderranking der Umwelt- und Verkehrsverbände beim Thema Mobilität nur auf Platz 12. Beim Klimaschutz sieht es noch um einiges schlechter aus.
Wir als LINKE sehen die großen Herausforderungen in Bezug auf die Verkehrsplanungen der Zukunft: Klimaschutz, lebenswerte Städte für die Menschen und bezahlbare Mobilität – auch ohne Auto und auch im ländlichen Raum. Dazu kommen die Fragen rund um die Logistik und den weitgehend unregulierten Güterverkehr, der unsere Straßen und Städte überrollt. Herr Minister, vielleicht sollte man die Corona-Krise einmal zum Anlass nehmen – das wäre jetzt vielleicht eine gute Gelegenheit –, um das Millionengrab Kassel-Calden endlich in Würde sterben zu lassen.
(Beifall DIE LINKE)
Vor Corona hat diesen Flughafen keiner gebraucht. Jetzt brauchen wir ihn erst recht nicht. Vielleicht kann man dieses sinnlose Projekt, für das Ihr Herz nie sehr stark schlug, einmal beenden. Ich glaube, gerade in dieser Corona-Krise ist das Geld anderswo sinnvoller eingesetzt.
Meine Damen und Herren, der Verkehrssektor ist noch immer der große blinde Fleck in allen Klimaschutzbemühungen. Während es z. B. im Gebäudebereich oder bei der Stromerzeugung zumindest einen Trend in die richtige Richtung gibt, sind die CO2-Emissionen des Verkehrs seit 1990 nicht gesunken. Die durch die Verkehrsinfrastruktur versiegelte Fläche steigt von Jahr zu Jahr. Der Verkehrssektor ist mit etwa 38 % der größte CO2-Emittent in Hessen. Natürlich gibt es auch Probleme jenseits des Klimaschutzes, die eine Verkehrswende dringend erfordern: Lärm, Abgase, Flächenverbrauch und deutschlandweit Tausende Tote jedes Jahr. Gerade die Ballungsräume ersticken in Autos, und so kann es nicht weitergehen.
(Beifall DIE LINKE)
Die Frage ist: Gibt es hier wirklich ein Erkenntnisproblem? Ist es jetzt wirklich angebracht, zu sagen: „Machen wir erst einmal langsam, setzen wir uns an einen runden Tisch; lasst uns einmal überlegen, was wir jetzt machen“? Denn eigentlich ist es doch sonnenklar, was wir tun müssten. Das liegt doch auf der Hand. Um dies aber zu tun, muss man auch bereit sein, sich mit den Interessen der Automobilund Luftfahrtindustrie anzulegen.
(Beifall DIE LINKE)
Meine Damen und Herren, dazu brauchen wir sinnvolle Konversionsprogramme, die die Arbeitsplätze in der Automobilindustrie und beim Flugverkehr erhalten und zukunftsfähig machen. Dabei darf man nicht an veralteten Technologien festhalten, sondern sowohl die Automobilindustrie als auch die Zulieferer brauchen Konversionskonzepte, um die Arbeitsplätze zukunftsfähig zu gestalten. Auch das heißt: Verkehrswende.
(Beifall DIE LINKE)
Es gibt in der Verkehrswissenschaft und der Stadtplanung eigentlich keinen Dissens darüber, dass die Wunden aus Zeiten der „autogerechten Stadt“ geheilt werden müssen. Die Bevorzugung des motorisierten Individualverkehrs muss beendet werden. Die Relikte dieser Zeit müssen rückabgewickelt werden: die Stadtautobahnen, mehrspurige Stadtstraßen, Verbannung von Fuß-, Rad- und Bahnverkehr an den Rand, unter die Erde, irgendwohin, wo sie nicht stören. Und es muss Schluss damit sein, dass wir für immer mehr Autoverkehr immer mehr Straßen und immer mehr Fahrspuren bauen, die dann immer mehr Autoverkehr verursachen. Es muss auch damit Schluss sein, dass Autos immer größer werden. Mittlerweile ist jedes fünfte neu zugelassene Auto ein SUV. Das ist in vollgestellten Innenstädten ein Irrsinn.
(Beifall DIE LINKE – Zuruf AfD)
Der Automobilverkehr muss weniger attraktiv gemacht, und gleichzeitig müssen die Alternativen attraktiver gemacht werden.
(Zurufe AfD)
- Ich höre schon, die SUV-Fraktion schreit auf.
Wir brauchen eine Reaktivierung von stillgelegten Bahnstrecken.
(Zuruf AfD)
- Ja, die Vergiftung des Klimas ist ein Spezialgebiet derAfD, nicht nur mit Abgasen, sondern auch mit Äußerungen. Hierüber besteht in diesem Hause weitgehende Einigkeit.
(Beifall DIE LINKE)
Was wir brauchen, ist die Reaktivierung von Bahnstrecken, autofreie Innenstädte, mehr Lebensqualität, weniger Platzverbrauch durch fahrende und parkende Autos, kluge, intermodale Verkehrskonzepte. All das brauchen wir. Wir brauchen eine neue Art, Mobilität zu denken, sowohl aus ökologischen als auch sozialen Gründen. Kein Mensch sollte auf ein Auto angewiesen sein, um seine täglichen Wege zurückzulegen, auch nicht auf dem Land. Mobilität muss auch bezahlbar sein.
(Beifall DIE LINKE)
Im schwarz-grün regierten Hessen feiert man sich für Mitnahmebänke und Bürgerbusse, wo Ehrenamtliche in die Lücken des Staats springen. Nichts gegen dieses ehrenamtliche Engagement, aber das ist ein bisschen wie mit den Tafeln: Toll, dass es jemand macht, aber ärgerlich, dass es sie überhaupt geben muss. – Nein, das ist Mobilität als Almosen – für Seniorinnen und Senioren sowie für Mobilitätseingeschränkte. Das ist kein attraktiver ÖPNV auf dem Land, und es ist erst recht keine Verkehrswende. Diese brauchen wir jedoch und kein ehrenamtliches Engagement, das diese Lücken füllt.
(Beifall DIE LINKE)
Meine Damen und Herren, zur Attraktivität des ÖPNV gehört auch unsere Forderung nach erheblichen Preissenkungen, am besten zum Nulltarif. Die Menschen sollten nicht dafür bezahlen müssen, dass sie das Richtige tun. Wir brauchen auch einen erheblichen Ausbau der Infrastruktur und des Angebots, gerade im ländlichen Raum; denn weite Teile des ländlichen Raums sind vom ÖPNV faktisch abgehängt. Dort gibt es keine Alternative zum Auto. Dort müssen wir die Dinge dringend verbessern.
Ich will die Barrierefreiheit ansprechen, weil es auch in diesem Zusammenhang viel zu tun gibt. Die Barrierefreiheit geht viel zu langsam voran. Die zügige Modernisierung der noch nicht barrierefreien Bahnhöfe ist dringend notwendig, damit alle Menschen – auch mobilitätseingeschränkte Menschen – Busse und Bahnen nutzen können.
(Beifall DIE LINKE und vereinzelt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)
Natürlich liegen uns auch gute Arbeitsbedingungen im ÖPNV am Herzen, dass Busfahrerinnen und Busfahrer nicht zwei Jobs machen müssen, weil sie sonst nicht über die Runden kommen. Wir wollen, dass sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die Arbeitszeiten in Bus und Bahn tarifgebunden und menschenfreundlich sind. Auch dafür setzen wir uns ein. Insbesondere zur Zeit der CDU-Alleinregierung und in den schwarz-gelben Jahren gab es einige sehr heftige Fehlentwicklungen, gerade was die Vergabepraxis anging. Hier müssen soziale Kriterien im Vordergrund stehen. Wir wollen gute Arbeitsbedingungen im hessischen ÖPNV.
(Beifall DIE LINKE)
Beim Radfahren wird sehr viel geredet und öffentlichkeitswirksam beworben. Aber im Alltag bleibt Radfahren oft eine Zumutung, und eine sehr gefährliche obendrein. Die unterfinanzierten Kommunen haben kaum Mittel für eine zusammenhängende Planung von Radnetzen. Sie müssen Stückwerk machen, wenn Straßen sowieso saniert werden. So kommt es zu den berüchtigten, im Nichts endenden Radwegen und gefährlichen Schutzstreifen als Sparvarianten. Das ist aber keine sinnvolle Fahrradinfrastruktur.
(Beifall DIE LINKE)
Im Bereich der Logistik gäbe es natürlich auch viel zu tun. Die Autobahnen sind eine große Lkw-Schlange, und durch jede kleine Wohnstraße fahren heute mindestens ein halbes Dutzend Paketwagen pro Tag. Hier stellt sich die Frage, wie sich dieser Transportirrsinn auf unseren Straßen und in den Städten sinnvoll regulieren lässt.
(Günter Rudolph (SPD): Das ist ganz einfach: Die Leute müssten weniger bestellen!)
Wie sich regionale Wirtschaftskreisläufe stärken lassen, statt auf Just-in-time-Lieferungen quer durch Europa zu setzen, dazu kann man in Hessen etwas machen, aber hierzu wären wirklich bundesweite Kraftanstrengungen notwendig, meine Damen und Herren.
(Beifall DIE LINKE)
Kurzum: Wir versperren uns natürlich keinem Erkenntnisgewinn; und wir unterhalten uns gern über die Mobilität der Zukunft. Bei den Fragen: „Wie kann die Verkehrswende gelingen; wie sind die Autos aus den Städten zurückzudrängen; wie kann der Umstieg auf einen Nulltarif gelingen?“, sind gute Konzepte notwendig. Ich finde, wir müssen aufhören, hier über Verzicht zu reden. Es geht nicht um Verzicht, sondern es geht um ein Mehr an Lebensqualität. Es geht darum, weniger Lebenszeit im Stau zu verbringen. Die Leute, die täglich im Stau stehen, freuen sich nicht darüber, dass sie so mobil sind, sondern ärgern sich über die wertvolle Lebenszeit, die sie im Stau verlieren. Wir brauchen mehr Grünflächen und saubere Luft. Die Verkehrswende ist eine Chance, die Lebensqualität vieler Menschen zu erhöhen. Deswegen stimmen wir der Enquetekommission zu.
Aber wir warnen, dass die Einsetzung der Enquetekommission nicht dazu führen darf, dass wir jetzt jahrelang diskutieren und nichts passiert. Die Verkehrswende muss umgesetzt werden. Sie muss jetzt umgesetzt werden, und zwar schnell, damit wir die Klimaschutzziele rasch voranbringen.
(Beifall DIE LINKE)
Ich komme zum Schluss. Lasen Sie uns deshalb die Enquetekommission einrichten. Lassen Sie uns darüber diskutieren, wie die Verkehrswende gelingen und man Mobilität bezahlbar machen könnte, gerade angesichts der Situation, die wir heute in Hessen haben. Aber wir haben kein Zeitfenster, um zuzuwarten. Wir müssen die Verkehrswende jetzt anpacken. – Vielen Dank.
(Beifall DIE LINKE)