Antisemitismus entschieden entgegentreten
In seiner 75. Plenarsitzung am 20. Mai 2021 diskutierte der Hessische Landtag über antisemitische Übergriffe und den Konflikt in Israel. Dazu die Rede unserer Fraktionsvorsitzenden Janine Wissler.
Herr Präsident meine Damen und Herren! Gerade angesichts der deutschen Geschichte gilt: Jeder Form des Antisemitismus, ob Steine gegen Synagogen, Hass in den sozialen Medien oder Gewaltdrohungen gegen Jüdinnen und Juden, muss entschieden entgegengetreten werden.
Es ist nicht akzeptabel, wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland für die israelische Regierungspolitik verantwortlich gemacht oder gar angefeindet werden. Es ist völlig legitim, sich solidarisch mit den Palästinensern zu zeigen, die israelische Regierung zu kritisieren und dagegen zu demonstrieren – aber nicht vor Synagogen und nicht mit judenfeindlichen Parolen.
Es ist beschämend, dass jüdische Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Synagogen immer und derzeit verstärkt polizeilich geschützt werden müssen, weil sie Bedrohungen ausgesetzt sind, dass viele Juden Angst haben, die Kippa zu tragen, dass Sportler von Makkabi von Anfeindungen und Bedrohungen berichten. Damit dürfen wir uns nicht abfinden.
(Beifall DIE LINKE, SPD, Freie Demokraten und vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es gab in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg antisemitischer Straftaten. Über 2.300 antisemitische Straftaten haben die Behörden im Jahr 2020 registriert. Das sind rund 16 % mehr als im Vorjahr. Das ist ein neuer Höchststand seit Beginn der Erfassung.
Der größte Teil der antisemitischen Delikte, um die 90 %, geht auf Tatverdächtige aus dem rechten Milieu zurück. Viele Vorfälle werden von der Statistik nicht erfasst, und viel zu oft werden Hakenkreuzschmierereien und antisemitische Beleidigungen bagatellisiert.
Über 40 % der befragten Juden in Deutschland geben laut einer Studie an, im Alltag selbst Antisemitismus erlebt zu haben. In keinem anderen Land der untersuchten EU-Länder gibt es einen so hohen Anteil wie in Deutschland.
Wer ernsthaft behauptet, Antisemitismus in Deutschland sei „importiert“, wie die AfD das heute getan hat, macht den Antisemitismus unsichtbar, der immer hier war, der nie weg war.
(Beifall – Zuruf Robert Lambrou (AfD))
Das ist ein Hohn angesichts der deutschen Geschichte. Antisemitismus ist kein neues Phänomen in Deutschland, im Land der Schoah.
Gerade die AfD, deren Fraktionsvorsitzender Gauland die Nazizeit als „Vogelschiss“ bezeichnete, die in Landtagen beantragt hat, die Mittel für die Gedenkstätten zu kürzen, Höcke, den man, gerichtlich bestätigt, einen Faschisten nennen darf, der „eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ forderte und beklagt, dass Hitler als absolut böse dargestellt werde – ausgerechnet Sie wollen über Antisemitismus reden? – Sie wollen Muslime diffamieren, darum geht es Ihnen, hier und überall sonst.
(Beifall DIE LINKE, SPD und vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Antisemitische Einstellungen sind ein gesamtgesellschaftliches Problem. Studien zeigen, wie verbreitet Antisemitismus ist, und zwar in allen Einkommensschichten. Unter Hochschulabsolventen mit einem Jahreseinkommen von mindestens 100.000 € behaupten mehr als ein Viertel der Befragten, die Juden hätten in der Wirtschaft und in der Weltpolitik zu viel Macht. 41 % sind der Meinung, die Juden würden zu viel über den Holocaust reden. Das zeigt: Der Antisemitismus ist nicht auf die extreme Rechte beschränkt, sondern er sitzt tief in der Gesellschaft.
Natürlich gibt es auch Menschen mit Migrationsgeschichte und Muslime mit antisemitischen Einstellungen. Aber die Zunahme antisemitischer Straftaten lässt sich nicht auf die Zuwanderung zurückführen.
Ein Brandbeschleuniger sind hingegen rechte Verschwörungsideologien angesichts der Corona-Pandemie, die sich sehr häufig antisemitischer Stereotype bedienen. An diesen Demonstrationen haben Sie teilgenommen.
Gideon Botsch, der Leiter der Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus am Moses Mendelson Zentrum, stellt fest:
Im vergangenen Jahr haben die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen erheblich dazu beigetragen, antisemitische Vorurteile zu verbreiten.
NS-Vergleiche, die den Holocaust verharmlosen, sind auf vielen Demonstrationen allgegenwärtig. Menschen heften sich den Judenstern an die Brust und vergleichen sich mit Sophie Scholl und Anne Frank. Das ist vollkommen inakzeptabel. Dadurch hat der Antisemitismus eine neue Dynamik und eine neue Radikalisierung erfahren.
Die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus stellen fest, dass ein beachtlicher Anteil der dokumentierten antisemitischen Vorfälle einen Bezug zur Corona-Pandemie hat. Manche mögen diese Verschwörungstheorien als Spinnertum abtun. Aber viel zu oft wird aus solchem Wahn Ernst.
Der Attentäter, der 2016 in München neun Menschen erschoss, wurde von einem Freund als sehr antisemitisch beschrieben. Der Attentäter, der 2019 in Halle zwei Menschen erschossen hat, nachdem er versucht hat, am Feiertag Jom Kippur in eine Synagoge einzudringen, machte in seinem Bekennerschreiben die Juden unter anderem für die Einwanderung der Muslime nach Deutschland verantwortlich. Der Attentäter, der 2020 in Hanau neun Menschen erschoss, bediente sich der NS-Rhetorik. Er sprach vom „inneren Feind“, der das deutsche Volk bedrohe, und forderte unter anderem die Ausrottung der Bevölkerung Israels.
Das waren drei Terrorakte in fünf Jahren. Alle wurden aus einer ähnlichen Vorstellungswelt gespeist, in der Antisemitismus ein Kernelement ist. Die Täter waren allesamt Deutsche. Gerade im rechtsradikalen und völkisch identitären Milieu treffen antimuslimischer Rassismus und Antisemitismus zusammen. Daraus wird dann die Theorie von einem „großen Austausch“, der angeblich von geheimen Mächten gesteuert wird. Ich finde, dieser Gefahr sollten alle Demokratinnen und Demokraten entschieden entgegentreten.
(Beifall DIE LINKE, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)
Wer von „importiertem Antisemitismus“ redet, vor einer Islamisierung warnt und von einem Bevölkerungsaustausch schwadroniert, wie das die Mitglieder der AfD, aber auch andere Akteure und bestimmte Medien tun, lenkt nicht nur ab. Er ist Teil des Problems. Denn die Musliminnen und Muslime sind in diesem Land selbst von Rassismus bedroht. Deswegen ist es nötig, jeder Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit etwas entgegenzusetzen. Unsere Solidarität gilt all den Menschen, die von Antisemitismus und Rassismus betroffen sind und die sich in Bündnissen dagegen engagieren und Solidarität zeigen.
Um Antisemitismus wirksam zu bekämpfen, brauchen wir Bildungs- und Präventionsprojekte. Die Lehrkräfte und die Behörden müssen sensibilisiert werden, damit sie Antisemitismus erkennen und handeln. Natürlich müssen wir die Erinnerungskultur stärken und aufrechterhalten.
Klar ist: Der Nahostkonflikt ist weder die Ursache noch die Rechtfertigung für Antisemitismus. Deswegen sollten die Debatten auch nicht völlig miteinander vermengt werden. Leider wird die aktuelle Eskalation aber genutzt, um aus eigenem Interesse Hass zu schüren und Konflikte anzuheizen. Das erleben wir gerade vom türkischen Präsidenten Erdogan.
DIE LINKE verurteilt die massiven Raketenangriffe der
Hamas auf Israel. Wir verurteilen die Bombardierung von Gaza, die die Zivilisten dort vollkommen ungeschützt trifft. Die Eskalation der Gewalt muss umgehend gestoppt werden. Es muss ein Waffenstillstand vereinbart werden, um Menschenleben zu retten. Es sind schon über 200 Menschen gestorben.
(Zustimmung DIE LINKE)
Sowohl die israelische wie auch die palästinensische Zivilbevölkerung haben ein Recht auf ein Leben in Sicherheit. Wir kritisieren die israelische Siedlungspolitik, die Annexion der besetzten Gebiete und die Zwangsräumung palästinensischer Bewohnerinnen und Bewohner in Ostjerusalem. Das verstößt gegen das Völkerrecht.
Das Existenzrecht Israels bleibt für uns als LINKE in Deutschland eine unwiderrufliche Konsequenz aus der Schoah, aus der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden. Als LINKE werden wir uns weiter für eine friedliche Zweistaatenlösung einsetzen. Deeskalation und Verhandlungen sind statt Waffenlieferungen und Eskalation nötig. Das Unrecht der verweigerten Selbstbestimmung der Palästinenser muss überwunden werden.
Ich komme zum Schluss meiner Rede. Ich will mit einem Zitat von Meron Mendel aus einem Artikel der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ von dieser Woche enden. Er ist der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Er schreibt:
Während Tel Aviv und Gaza unter Beschuss waren, haben sich Araber und Juden spontan versammelt und den Aufruf „Wir weigern uns, Feinde zu sein“ in die Welt hinausgetragen. In der Nähe meines Heimatorts … versammelten sich viele meiner jüdischen und arabischen Freunde aus der Schulzeit in einem Beduinenzelt. Es mischten sich Trauer und Verzweiflung über die aktuelle Situation mit dem festen Glauben daran, dass es doch eine Alternative zu Hass und Gewalt gibt. Ich wünsche mir, dass wir hier auch diese Menschen wahrnehmen und unterstützen; gerade sie brauchen unsere Solidarität.
Vielen Dank.
(Beifall DIE LINKE und vereinzelt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)