Ein paar Überlegungen zum Brexit, der aus meiner Sicht kein Grund zum Jubeln ist

Das Ergebnis des Referendums ist Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit, die in vielen Ländern der EU spürbar ist. Eine grundsätzliche linke Kritik an der EU, ihren Institutionen und Verträgen ist notwendig: An der unsozialen und undemokratischen Verfasstheit, den TTIP-Verhandlungen, der Aufrüstung sowie der Abschottung gegen Flüchtlinge, um nur einige Punkte zu nennen. So positiv es ist, dass es heute keine Grenzkontrollen zwischen den meisten Mitgliedsstaaten gibt (wobei sich im letzten Jahr gezeigt hat, dass diese Errungenschaft jederzeit eingeschränkt werden kann), die Außengrenzen der EU stellen für viele Menschen in Not ein unüberwindbares, oft tödliches, Hindernis dar. Auch bei der Erpressung Griechenlands zeigte sich deutlich, dass die EU kein progressives Projekt ist.

Nur leider hat diese berechtigte Kritik an der EU in der Brexit-Kampagne nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Die Kampagne war dominiert von nationalistischen und fremdenfeindlichen Parolen, sie richtete sich gegen Migranten und Muslime, linke Kritik an der EU ist kaum durchgedrungen. Stattdessen war die Beschränkung der Zuwanderung ein beherrschendes Thema (und „Take back control“ in Fragen der nationalen Souveränität z.B. „of our borders“).

Wer hat für den Brexit gestimmt? Die reichere Bevölkerung hat mehrheitlich für Remain gestimmt (54 Prozent), der ärmere Teil der Bevölkerung eher für Leave (53 Prozent). Dennoch ist das Bild differenzierter. So hat die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung für Remain gestimmt. Die größte Gruppe unter den Leave-Wählern sind weiße Rentner, während ‚black voters‘ und Muslime zu über 70 Prozent für Remain gestimmt haben. Nicht weil sie reich sind, sondern weil sich die Kampagne in großen Teilen gegen sie wendete.

In den meisten großen Städten, wo der Migrationsanteil besonders hoch ist, stimmten die Menschen mehrheitlich gegen den Brexit, während es in ländlichen Gebieten eher eine Mehrheit für den Brexit gab, besonders dort, wo UKIP bei den Wahlen am stärksten abgeschnitten hat - darunter auch ehemalige Labour-Hochburgen mit hohem Arbeiteranteil. In Schottland und Nordirland, wo die Durchschnittseinkommen niedriger sind als im Rest des VK, wurde mehrheitlich für Remain gestimmt. Auffällig ist das Gefälle zwischen den Altersgruppen.

Es ist falsch, allen, die für den Brexit gestimmt haben, fremdenfeindliche Motive zu unterstellen. Viele Menschen haben für den Brexit gestimmt, weil sie die EU als undemokratisch und neoliberal wahrnehmen und nicht, weil sie nationale Abschottung befürworten. Umgekehrt haben viele Menschen für Remain gestimmt, weil sie ein Zeichen gegen eine rassistische Kampagne setzen wollten, und nicht, weil sie mit der Politik der EU zufrieden sind.

Im Mai gab es eine Umfrage, wonach 52 Prozent der Britinnen und Briten der Meinung waren, dass sich ein Brexit positiv auf die Zuwanderungspolitik auswirken würde - dieser Wert ist im Laufe der Brexit-Kampagne angestiegen.

Einer Studie zufolge ist das Thema Einwanderung für 45 Prozent der Britinnen und Briten mittlerweile das wichtigste Thema, 77 Prozent befürworten eine Reduzierung der Zuwanderung. Zudem ist die Zahl von antimuslimischen Vorfällen in GB in den letzten Jahren um 70% gestiegen. Vor dem Hintergrund dieser aufgeheizten Stimmung ist auch der Mord an Jo Cox („Britain First“) zu sehen. Nach dem Referendum gibt es verstärkt Anfeindungen gegen die polnischstämmige Bevölkerung.

Diese Stimmung ist nicht vom Himmel gefallen, sie wurde genauso wie in Deutschland ganz bewusst geschürt, um die tatsächlichen Ursachen von Problemen zu verschleiern.

Auch hier gilt: Die Politik der EU und die der nationalen Regierungen tragen Verantwortung für die Rechtsentwicklung in vielen Ländern Europas. Statt eine humanen Flüchtlingspolitik und die Bekämpfung der Fluchtursachen zu betreiben, sind in EU-Staaten Zäune gebaut, Grundrechte ausgehöhlt und durch das Schüren von Ängsten und Ressentiments rechtsradikale Parteien in ganz Europa gestärkt worden. UKIP, AfD und Co fahren die Ernte dieses vergifteten Klimas ein.

Die Remain-Kampagne hat dieser Stimmung nicht viel entgegengesetzt (und die Regierung Cameron sowieso nicht), sondern vor allem mit der Angst vor einem wirtschaftlichen Abstieg durch den Brexit argumentiert – der für viele Briten aber längst Realität ist. Ein Drittel der Briten lebt in Armut – doppelt so viele wie vor 30 Jahren.

Was die nationalen Regierungen und EU-Verantwortlichen jetzt lautstark beklagen, sind die Folgen ihrer eigenen Politik. Und die Antwort darauf darf nicht sein, die EU-Politik besser zu ‚erklären‘, wie jetzt wieder vielfach zu hören ist, sondern sie zu ändern.

Ich glaube nicht, dass der Brexit – unter den jetzigen Kräfteverhältnissen – ein Fortschritt ist. Wenn Boris Johnson nächster Premierminister wird und die unsoziale Politik Camerons fortsetzt, bedeutet es für die Mehrheit der Menschen keinerlei Verbesserungen, dass GB nicht mehr der EU angehört. Es bleibt abzuwarten, was bei den Austrittsverhandlungen rauskommt, und wie hart der Einschnitt am Ende wirklich sein wird.

Es wäre eine gänzlich andere Situation, wenn die griechische Linke eine solche Kampagne geführt hätte, mit einer linken und internationalistischen EU-Kritik und der Option –nach einem Bruch mit der EU – eine sozialere Politik zu machen, die durch die EU-Kürzungsdiktate sonst verhindert wird. Hier wurde linke Reformpolitik insbesondere durch die deutsche Bundesregierung über die Hebel der EU ausgebremst.

Ob allerdings das Exempel eines ‚erfolgreich‘ praktizierten Ausstiegs Großbritanniens aus der EU dazu beitragen würde, dass das Erpressungspotential gegenüber Ländern wie Griechenland sinkt, wie einige meinen, ist fraglich, weil die Erpressbarkeit Griechenlands ja primär aus der ökonomischen Schwäche und Importabhängigkeit des Landes resultierte, während GB aufgrund der wirtschaftlichen Stärke eine ganz andere Verhandlungsposition gegenüber der EU hat.

Anders als Griechenland werden GB und andere Kernländer der EU auch nicht von ‚Brüssel‘ zu Sozialabbau gezwungen, das schafften Thatcher, Blair, Schröder und Merkel auch aus eigener Motivation. Die Regierungen argumentieren zwar gerne mit der EU, wenn sie Verschlechterungen durchsetzen, aber tatsächlich läuft es eher andersherum.

Die Liberalisierungs- und Privatisierungspolitik wurde von Thatcher in GB durchgesetzt und später mithilfe von EU-Richtlinien auf ganz Europa übertragen, ebenso wie Schröders Agenda 2010 eine neue Welle des Sozialabbaus in der EU einläutete. Wenn wir die EU kritisieren (was wir tun sollten), müssen wir zuvorderst auch die deutsche Bundesregierung kritisieren. In der EU haben die Nationalstaaten das Sagen (einige mehr als andere) und nicht supranationale Elemente wie das Europäische Parlament. Die EU ist ein Staatenbündnis, über das diese ihre Interessen global und innerhalb der EU durchzusetzen versuchen. Die EU hegt nationale Interessen nicht ein, sie ist ein Instrument nationaler Regierungen zur Durchsetzung ihrer Interessen, und nicht umgekehrt.

Die Linke sollte das Ergebnis des Referendums zum Anlass nehmen, eine grundsätzliche linke Kritik an der EU offensiver zu formulieren verbunden mit einer Absage an Nationalismus und Rassismus.

In GB hatten die Menschen die ‚Wahl‘ zwischen dem Verbleib in der EU, so wie sie ist, und einer stärkeren nationalen Abschottung ohne Aussicht auf einen Politikwechsel für mehr soziale Gerechtigkeit (zumindest nicht durch das Referendum). Gefühlt war es die Wahl zwischen Cameron und Farage.

Die Regierung Cameron hätte das Referendum wohl auch niemals in die Wege geleitet, wenn dadurch echte Fortschritte und Verbesserungen zu befürchten gewesen wären. Der Kampf darum wird auf andere Weise entschieden. Apropos: Ich habe gehört, dass die britischen Lehrerinnen und Lehrer demnächst wieder streiken, solidarische Grüße und good luck!

 


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